Berlin. Eines Tages fährt die Mutter unserer Autorin mit ihr weg, ohne dem Vater Bescheid zu geben. Noch heute ist sie traumatisiert.

Father and son going to kindergarten
Entführt ein Elternteil ein Kind, kann das dessen Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. (Symbolbild) © iStock | shih-wei

Meine Mutter entführt ihr Kind an einem Wochentag nach der Schule. Ich bin zu dem Zeitpunkt etwa sieben Jahre alt, genauer weiß ich es heute nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch daran, dass ich mich auf das Mittagessen freue, Spaghetti mit Tomatensauce. Als meine Mutter damals nicht den gewohnten Weg nach Hause fährt, sondern in Richtung Autobahn abbiegt, ahne ich, dass ich heute keine Nudeln essen werde: „Mama, warum fahren wir nicht nach Hause?”.

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Die Geschichte meiner Entführung – oder Kindesentziehung, wie es auf Juristen-Deutsch heißt – ereignet sich um die Jahrtausendwende. Wo genau, will ich in diesem Text nicht verraten. Genau so wenig, wie ich meinen Namen hier teilen möchte. Die Tage, in denen mich meine Mutter aus meinem Zuhause riss und meinem Vater unseren Aufenthaltsort verheimlichte, haben mich traumatisiert, und auch mehr als 20 Jahre später fällt es mir schwer, sie erneut zu durchleben. 

„Block House“: Entführung? Fall erinnert mich an meine Kindheit

Aktuell sind noch viele Fragen offen im Sorgerechtsstreit von Christina Block und ihrem Ex-Mann Stephan Hensel – die Schuldfrage ist nicht geklärt. Dennoch erinnert mich der Fall an meine eigene Kindheit. Auch wenn ich nicht im Ausland landete, keines meiner Elternteile verprügelt und auch niemand über einen europäischen Haftbefehl gesucht wurde, ist das Schema doch immer das gleiche: Die Eltern trennen sich, beide wollen die Kinder bei sich haben, natürlich aus Liebe.

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Doch ist es wirklich Liebe, wenn Kinder gegen ihren Willen aus ihrem Umfeld gerissen werden und niemand ihnen erklärt, wo sie am nächsten Tag aufwachen werden?

Sorgerechtsstreit: Ich wollte nicht glauben, dass mein Vater böse sein soll

Als ich im Auto meiner Mutter auf der Rückbank sitze, läuft die CD einer Sängerin, die ich mir bis heute nicht anhören kann. Meine Mutter hält an und telefoniert auf Englisch, damit ich nichts verstehe. Dann dreht sie sich um: „Wenn ich bei Papi bleibe, sterbe ich“, sagt sie. „Wir fahren nicht nach Hause.” Meine Mutter erklärt, dass ich in nächster Zeit nicht zur Schule gehen darf, damit mein Vater mich nicht findet. 

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Ich höre und sehe in der Zeit oft, wie meine Eltern streiten oder sich anschreien. Dass mein Vater körperliche Gewalt gegen meine Mutter ausübt, habe ich noch nie erlebt. Ich verstehe die extreme Aussage meiner Mutter nicht: Ist mein geliebter Papa in Wirklichkeit ein böser Mann? Erst Jahre später erklärt sie mir, dass sie den Satz nicht wortwörtlich meinte, sondern damit auf die toxische Beziehung anspielte, die sie beide verursacht hatten. Ein Unterschied, den ein Kind unmöglich verstehen kann. 

Ich fühle an diesem Tag zum ersten Mal das Schockgefühl, das sich bei Angst noch heute in meinem Körper breitmacht: Als würde ein tonnenschwerer Stein aus meiner Herzgegend in meinen Magen rutschen und mich von innen verbrennen. Die Hitze betäubt mein Gehirn. Doch ich bin immer noch ein Kind: „Können wir zurückfahren und meinen Lieblingsteddy mitnehmen?”

Die Entführung führt als Erstes ins Frauenhaus

Wir fahren nicht zurück, sondern in ein Frauenhaus. Ich verstehe nicht, was ich hier soll. Die Sozialarbeiterin zeigt uns die kleinen Zimmer mit den Stockbetten, das dunkle Gemeinschaftsbad, die Spielecke. Die Geschichten, die die Jungen und Mädchen dort erlebt haben, ähneln unserer Familiengeschichte nicht. Ich will daher auch nicht mit ihnen spielen, sondern bei meiner Mutter bleiben. Sie und die Sozialarbeiterin sprechen Englisch, damit ich nichts verstehe. 

Ich fühle mich ausgeschlossen und allein. Dass ich nichts verstehe, ist in den nächsten Tagen ein Dauerzustand. Ich weine nicht, aber ich weiß nicht, wie mir geschieht. Werde ich jemals meine Freundinnen wiedersehen oder in meinem eigenen Bett schlafen? Muss ich mir jetzt für immer ein Bad mit fremden Menschen und ein Zimmer mit meiner Mutter teilen, während wir vorher in einem Haus gelebt hatten?

Ich verstehe nicht, warum uns nur wenige Stunden nach der Ankunft im Frauenhaus eine Freundin meiner Eltern abholt. Ich verstehe nicht, warum wir nun dort schlafen, wo wir zuvor Hunderte Male als Familie zu Besuch waren, während ich nicht einmal mit meinem Vater telefonieren darf – ein Handy besitze ich damals noch nicht. Ich verstehe auch nicht, warum meine Mutter so oft sagt, dass niemand wissen darf, wo wir sind. Immerhin bekomme ich einen neuen Teddy, damit ich den alten in meinem Bett nicht so sehr vermisse. Ein kurzer Moment der Freude.

„Block House“-Erben: Warum ein Sorgerechtsstreit Gewalt am Kind ist

Ein Kind in einem Sorgerechtsstreit als Instrument zu nutzen, um dem Ex-Partner oder der Ex-Partnerin zu schaden, ist schlimme Gewalt. Dazu gehört auch, es gegen sein anderes Elternteil aufzuhetzen oder es emotional zu manipulieren. Die daraus entstandenen Traumata können ein ganzes Leben lang anhalten, aus dem emotionalen Missbrauch können sich psychische Probleme wie Angst- oder Persönlichkeitsstörungen entwickeln. Wie bei mir.

Stottern, Stottern Auswirkungen
Eltern sollten ihre Kinder im Sorgerechtsstreit nicht instrumentalisieren. © Adobe Stock/zinkevych | Unbekannt

Ich lerne in der Zeit meiner Entführung, die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse einzuteilen. Heute weiß ich, dass ich dadurch emotional überlebte und mir die vermeintliche Kontrolle zurückholte. Die ist in meinem Leben lange extrem wichtig: So vermeide ich, dass mir erneut emotionale Schmerzen zugefügt werden und der heiße Klotz in meinem Oberkörper den Panikmodus startet. 

In meinen Zwanzigern mache ich deswegen eine Verhaltenstherapie. Irgendwann sagt die Therapeutin: „Sie sind emotional instabil.” So nennt man das, wenn die Gefühle den Körper in einen schmerzhaften Alarmzustand versetzen, den Betroffene um jeden Preis vermeiden möchten. Als ich das erfahre, bin ich unglaublich wütend auf meine Mutter, obwohl es zu einfach wäre, ihr dafür die Schuld zu geben. 

Sorgerechtsstreit Block: Ein Detail habe ich erst als Erwachsene verstanden

Ich will mir nicht anmaßen, über die Gefühle der Block-Kinder oder anderer Betroffener zu urteilen und schon gar nicht über ihre Zukunft mutmaßen. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ein so erbitterter Sorgerechtsstreit zwischen den liebsten Menschen im Leben eines Kindes eine Seele zerstören kann. Ich hatte Glück im Unglück und pendelte im Wochentakt zwischen meinen Eltern hin und her, als die Scheidung endlich durch war. Aber viele Familien schaffen diesen Schritt nicht.

Manche Kinder tragen schwere Traumata aus der Scheidung ihrer Eltern davon.
Manche Kinder tragen schwere Traumata aus der Scheidung ihrer Eltern davon. © Unbekannt | Jana Fernow

Vielleicht überlegen sich streitende Eltern zweimal, was sie ihren Kindern antun, wenn sie diesen Text lesen. Wenn das immer noch nicht reicht, dürfte sie das hier interessieren: Ich habe heute zu meinen beiden Eltern ein gutes Verhältnis, aber ich habe meiner Mutter die Entführung nie richtig verziehen – auch wenn ich heute verstehe, dass sie sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand.

Das liegt auch daran, dass ich immer wieder neue Details über diese Zeit erfahre: Etwa, dass mein Vater mich in der Schule suchte und meiner Klassenlehrerin in einem langen Gespräch erzählte, warum ich unentschuldigt fehlte. Dass er uns damals nur durch Zufall fand, weil er das befreundete Paar besuchen und sich dort ausweinen wollte. Oder wie sehr er sich erschrocken hat, als dort nicht seine Freunde, sondern sein verschwundenes Kind die Tür aufmachte. 

Ich habe vor kurzem auch erfahren, wie lange die Entführung dauerte: vier Tage. Davor hatte ich jahrzehntelang erzählt, ich wäre wochenlang weg gewesen. So lange hat es sich in meinem Kinderherzen angefühlt.