Der Songwriter feiert Geburtstag, und alle feiern mit: unter anderem in zwei neuen Anthologien, die ihn ins rechte Licht setzen.

Man stelle sich vor, ein junger Mensch, vielleicht 15 Jahre alt, ein Junge oder ein Mädchen, eh egal, käme mit Bob Dylan in Berührung. Wäre elektrisiert. Vielleicht von „Murder Most Foul“, dem sehr späten Hit. Oder, um mit dem Finger an die andere Seite der Zeitschiene zu fahren, von „Blowing In The Wind“. Der junge Mensch wäre also infiziert und im Dylan-Fieber.

Und legt los. Und ertrinkt schon bald in Songs. Und weiß nicht, wo anfangen, wo aufhören. Chronologisch? Da kann man Spotify schon vertrauen. Geht alles mit einem Streichen und Drücken. Oder lieber nach Qualität? Da zumindest hülfe kein Algorithmus. Dylan, der Songwriter-Riese, der Pionier, der Dichter, das Genie: Wie will man dem Herr werden? Und doch möchte man tauschen mit dem Dylan-Anfänger oder der Dylan-Anfängerin. Noch mal neu entdecken, das Werk. (Wobei das Schöne ist: Bei 39 Alben gibt es auch für Fortgeschrittene immer noch Entdeckungen, neue Zugänge, Wiederhören lohnt sich.)

Bob Dylan feiert 80. Geburtstag

Am 24. Mai wird Bob Dylan 80 Jahre alt. Wer weiß schon, ob die Jubiläumstexte die letzten großen vor seinem Ableben sind. Man hört, es ist ganz wunderbar, derzeit nichts, was auf gesundheitliche Probleme schließen ließe. Wahrscheinlich macht His Bobness gerade lediglich Pandemie-bedingt endlich mal Pause mit seiner niemals endenden Konzertreise.

Die „Neverending Tour“ ist so legendär wie der Mann selbst. Seine Lieder vor Menschen zu spielen ist das, was Bob Dylan, geboren 1941 in Duluth, Minnesota, nun mal tut und wahrscheinlich tun wird, bis er das Zeitliche segnet. Es erübrigt sich also die Frage, warum der Mann so manisch herumreist, wo er doch längst zu Hause in seiner Villa 24/7 auf dem Sofa liegen könnte. Am Geldmangel kann’s jedenfalls nicht liegen, dass Dylan so rastlos ist. Unlängst veräußerte er die Rechte an seinen Liedern für 300 Millionen Euro an Universal Music.

Bob Dylan schon immer unberechenbar

Bob Dylan: Das ist auch Masse, Gewicht, Dauer. Was auch immer. So, wie einer, der jetzt zu Dylan kommt, erst mal wie der Ochs vorm Berg steht, so befindet sich auch der Lesende, der Fan und Wissbegierige, der das Phänomen, das Enigma und den Songtexter wenigstens ansatzweise verstehen und deshalb zum Erklärbuch greifen möchte, in einem Zustand der Haltlosigkeit. Das Dylan- ­Œuvre potenziert sich im Sekundärwerk. Weshalb der allerbeste Buchtitel ungeschlagen „Oh No! Not Another Bob Dylan Book“ aus dem Jahr 1990 ist.

Aber warum sollte je ein Buch eines zu viel sein? Bob Dylan ist in den 60 Jahren dieser einzigartigen Karriere, in der es Höhen und Tiefen gab, nie berechenbar gewesen. „Höhen und Tiefen“: ein Gebrauch von Worten übrigens, der dem Meister selbst nie unterlaufen würde. Dass er je ausgebrannt gewesen wäre, dass seine Sprache je ausgebrannt gewesen wäre, kann man der Schauerphase seiner Karriere – die gesamten 1980er! – zum Trotz nicht behaupten. Dylan ist ein Mann mit vielen Identitäten. Man hat ihn einen Bänkelsänger genannt, einen Gaukler. Einen Song-Aktivisten, Hobo, Trickster. Einen Troubadour, Prediger, Beatnik. Natürlich einen Hippie. Und seit 2016 nennt man ihn gelegentlich, mal mit dieser Intention, dann jener (manche fanden die Wahl ganz furchtbar, Unwürdige!), den Literaturnobelpreisträger Bob Dylan.

Dylan veröffentlichte zuletzt „I Contain Multitudes“

Jetzt, zum Runden, werden Dylan-Girlanden durch die Feuilletons und Musikzimmer geworfen. Spotify läuft noch mal richtig heiß, „The Times They Are A-Changin’“, so sagt man doch. Die große Party wird ein weiteres Mal gefeiert (wurde er nicht gerade erst 70?), und alle erzählen sich wieder, wie viele Gesichter Bob Dylan im Laufe seines Lebens doch schon hatte. Auch dieser Text erzählt eine Heldengeschichte, halten wir dennoch fest: Jeder Mensch, der 80 Jahre alt wird, sollte im Laufe seines Lebens verschiedene Rollen ausgefüllt haben. Zum Beispiel die des jungen, mittelalten oder alten Mannes.

„Bringing It All Back Home“ 1965: Dylan im Studio.
„Bringing It All Back Home“ 1965: Dylan im Studio. © picture alliance / Globe-ZUMA | picture alliance

Die Figuren in den Geschichten dieses Songwriters, der die Poesie in die populäre Musik brachte, sind nicht jung geblieben. Sie wurden mit diesem Mann alt, der zuletzt einen Song namens „I Contain Multitudes“ („Ich bin vieles“) veröffentlichte. Aber es ist doch so, dass die meisten ihr Jungsein oder zumindest ein Jüngersein mit den Songs von Bob Dylan verbinden. Zum Geburtstag sind gleich zwei Anthologien erschienen, die zwischen Nostalgie und Lobpreis schwanken und doch beides aufs Schönste miteinander verbinden. „Look Out Kid. Bob Dylans Lieder, unsere Geschichten“, herausgegeben von dem Musikredakteur Maik Brüggemeyer, und „Forever Young. Unsere Geschichte mit Bob Dylan“, herausgegeben von den Journalisten Stefan Aust und Martin Scholz, tragen dabei jeweils eine Grundannahme über Musik im Namen: dass sie sich auf je eigene Weise bei ihren Hörern einbrennt. Dass aus Songs Geschichten werden.

„Bob Dylan gibt uns allen Hoffnung"

Wobei der Begriff „Geschichte“ aus offensichtlichen Gründen schon beim Buchtitel den Assoziationsraum öffnen soll. Was Dylan immerzu war und immer noch ist: der Geschichtenerzähler. Aust und Scholz haben für ihre Hommage eine Reihe von Leuten interviewt, etliche davon im Lockdown, also digital. Vorhersehbar sind allein Niedecken, der seine wahre Berufung darin gefunden hat, ständig über seine Bewunderung Bruce Springsteens und Bob Dylans zu reden, Patti Smith und Joan Baez. Bei manch anderen, zuvorderst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Carla Bruni („Und dann hat Bob Dylan meinem Mann seine Mundharmonika geschenkt. Die habe ich sofort an mich genommen“), aber durchaus überraschend.

Jeder darf hier über die Bedeutung sprechen, die Dylan für sein Leben hat, über prägende Songs und Begegnungen mit dem Allergrößten. Kaum jemand behauptet, ihn wirklich zu kennen; das wäre auch noch schöner. Dylan war jetzt so lange Rätsel, er soll es bleiben, bis er zu Grabe getragen wird. Gene Simmons von Kiss erzählt, wie er einmal mit Dylan Songs schrieb, und macht sonst das, was unerlässlich ist: Er sagt, wie großartig Dylan ist. Der Schriftsteller T. C. Boyle ist, unter allen im Grunde Ratlosen, was die Erklärung für Dylans manische Tourerei angeht, der Klügste. Er sagt: „Allein dadurch, dass Bob Dylan immer weitermacht, gibt er uns allen Hoffnung.“

Dylans Songs sind eine private Erfahrung

Wahrscheinlich der essenziellste Umstand des späteren Dylan, noch vor seinem glänzendsten Comeback (hatte jemand mehr?) bei den Kritikern und auch beim Publikum mit dem Album „Time­ Out Of Mind“ im Jahr 1997, ist seine allabendliche Neu-Interpretation der eigenen Songs. Zentrale Dylan-Erfahrung: Welches Lied spielt er da eigentlich gerade? Und warum?

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Die Antwort kann lediglich lauten: Weil er es kann. So eindeutig nett es wäre, Dylan spielte einfach mal wieder eine seiner Hymnen so, wie er sie einst schrieb, so kristallklar muss auch der Befund ausfallen. Er wäre nicht der, der er ist, der, der immer schon alle Erwartungshaltungen unterlief, wären seine Konzerte anders. Niemand der Interviewten in „Forever Young“ misst dem speziellen Dylan-Konzerterlebnis allzu viel Bedeutung bei. Bob Dylans Songs sind vor allem auch eine private, vielleicht auch einsame Erfahrung.

Ein ewiger Künstler: Bob Dylan

Der Band „Look Out Kid“ hat den freieren, „freewheeling“ Zugang. Ausgehend von Songs und Songtiteln Dylans fabulieren hier Musiker, mehr aber noch Schriftsteller auf meist überzeugende Weise über ihre Lebensgeschichte mit Bob Dylan, interpretieren sein Werk und die Kulturgeschichte. Mehr noch erzählen sie eigene Geschichten, oft treiben sie es dabei so bunt wie Bob Dylan selbst: Die Songs selbst sind in den Geschichten nicht unbedingt erkennbar. Bob Dylan, das ist auch die Einladung zur eigenen Imagination. Mit dabei sind, unter anderem, Judith Holofernes, Tino Hanekamp, Benedict Wells, Frank Schulz, Christiane Rösinger, Jan Brandt und Michael Köhlmeyer. Keiner von ihnen wird je mit Dylan fertig sein. Weil er ewig ist.

Herzlichen Glückwunsch, Bob Dylan.