Der US-Student James Eagan Holmes hatte zwölf Menschen erschossen und seine Wohnung mit Sprengladungen gespickt. War der junge Mann unzurechnungsfähig? Ankläger fordern die Todesstrafe.
Washington. Erst Boston, jetzt Aurora. Mit der Auswahl der Geschworenen beginnt morgen erneut ein spektakuläres Gerichtsverfahren, das Amerika auf Monate in Atem halten wird. In der Nähe von Denver im US-Bundesstaat Colorado muss sich James Eagan Holmes wegen mehrfachen Mordes und rund 160 weiterer Straftaten von Waffenmissbrauch bis zur Bedrohung von Sicherheitskräften verantworten.
Der 27-jährige ehemalige Student der Neurowissenschaften war am 20. Juli 2012 im Century 16-Multiplex-Kino im Vorort Aurora während der Vorstellung des neuen Batman-Filmes „The Dark Knight Rises“ mit Gasmaske und Schutzweste in einen Saal gestürmt. Einige Kinobesucher glaubten zunächst an einen Werbegag – bis Holmes mit einem Sturmgewehr wahllos das Feuer eröffnete. Zwölf Menschen starben, mehr als 60 wurden teilweise schwer verletzt.
Holmes hat die Taten gestanden, jedoch bisher nie erklärt. Er plädierte allerdings bereits kurz nach dem Massaker auf „nicht schuldig“. Seine Anwälte beschreiben ihn zur Tatzeit „als von akuten psychotischen Notständen gequält“. Kurzum: unzurechnungsfähig. Die Staatsanwaltschaft verlangt dagegen die Todesstrafe. Chefankläger George Brauchler sagt: „Gerechtigkeit bedeutet in diesem Fall den Tod.“ Holmes, ausweislich seiner Uni-Karriere im Bereich der Neurologie hochintelligent, sei akribisch vorgegangen und habe die Tat über Wochen sorgsam vorbereitet.
Holmes hatte seine Wohnung mit Sprengladungen gespickt, damit Polizisten bei der Rekonstruierung des Verbrechens sterben. Außerdem hatte er in Kontaktbörsen im Internet vorher nach Frauen gesucht, die ihn später im Gefängnis besuchen. Für die Anklage ist das ein Schlüsselindiz für ihre These, dass „ihm die Folgen seines Amoklaufes vorher bekannt waren und er der Todesstrafe entgehen will, in dem er sich hinter einer behaupteten Geisteskrankheit versteckt“.
Sollte eine Jury ihn für unzurechnungsfähig erklären, landet Holmes für lange Zeit in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. Allerdings könnte er, so vermuten es Rechtsexperten der Universität Denver, irgendwann freigelassen werden.
Für Angehörige wie Marcus Weaver, der seine Freundin Rebecca Wingo bei dem Blutbad verlor, ist allein die Vorstellung „unerträglich“. Er und andere verlangen Gerechtigkeit und sehen schwere Versäumnisse bei diversen Beteiligten in den Monaten vor der Tat. So soll Holmes im März 2012 gegenüber einem Mitstudenten gesagt haben, dass er „Menschen töten wolle“.
Einen Monat vor dem Massaker fiel er durch eine wichtige Prüfung und drohte seinem Professor mit Vergeltung. Kurz darauf suchte die Uni-Psychologin das Gespräch mit ihm und unterrichtete vorsorglich die Campus-Polizei in Denver von einer möglichen Bedrohung. Allein, der Hinweis versickerte aus bisher nicht bekannten Gründen im Alltagsgeschäft. Vier Wochen später wurden Holmes‘ Gewaltphantasien, die in einem bis heute unter Verschluss gehaltenen Notizbuch dokumentiert sein sollen, blutige Realität.
Das Verfahren, dem Richter Carlos Samour vorsitzt, wurde in der Vergangenheit mehrfach verschoben. Die Verteidigung machte Überlastung geltend, weil die Anklage mehrfach Tausende Dokumente freigab. Außerdem soll die intensive Begutachtung des Angeklagten durch verschiedene Psychiater mehrere Monate beansprucht haben, heißt es.
Bis zur Beweisaufnahme und den ersten Kreuzverhören im Arapahoe County District Court in Centennial wird es voraussichtlich noch Monate dauern. Das Auswahlverfahren für Aurora ist noch anspruchsvoller als das in Boston, wo sich Dschohar Zarnajew vor Gericht verantworten muss, der gemeinsam mit seinem Bruder Tamerlan den Anschlag auf den Boston-Marathon verübt haben soll. Richter Samour hat in einem ersten Schritt 9000 potenzielle Jury-Mitglieder vorladen lassen. Bis die geeigneten zwölf Geschworenen gefunden sind, so John Ingold von der Zeitung „Denver Post“, wird es „vermutlich Juni werden“.
Mit einem Urteil wird nicht vor Frühjahr 2016 gerechnet. Im Falle eines Schuldspruchs wird bei einer separaten Anhörung darüber befunden, ob Holmes ins Gefängnis muss oder die Todesstrafe erhält.
Robert und Arlene Holmes, die aus San Diego stammenden Eltern des mutmaßlichen Mörders, haben erst vor wenigen Wochen die Öffentlichkeit gesucht und den Hinterbliebenen der Opfer ihre Anteilnahme versichert. Ihren Sohn sehen sie als kranken Menschen. Das Beste sei es, ihn in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen, wo er dann keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstelle. „Er ist kein Monster.“