Nach zehn Jahren Gefangenschaft endlich die Chance zur Flucht: Drei vermisste junge Frauen werden im US-Bundesstaat Ohio lebend gefunden. Unbemerkt von Nachbarn wurden sie in einer Wohngegend gefangen gehalten.
Washington. „Helft mir, ich bin Amanda Berry.“ Die Stimme der jungen Frau auf den Mitschnitten des Polizei-Notrufs klingt panisch und verzweifelt. Aber auch ein bisschen hoffnungsvoll. „Ich bin entführt worden und werde seit zehn Jahren vermisst. Und ich bin hier. Ich bin jetzt frei.“
Amanda Berry verschwand vor zehn Jahren. Sie war damals 16 Jahre alt und arbeitete in einem Fast-Food-Restaurant in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio. Ein Anruf, dass sie eine Mitfahrgelegenheit nach Hause gefunden hatte, war das Letzte, was ihre Familie am Vorabend ihres 17. Geburtstages von ihr hörte. Bis Montag dieser Woche.
Der jungen Frau gelang es, einen Nachbarn zu alarmieren, als ihr mutmaßlicher Kidnapper nicht zu Hause war. Die Einsatzkräfte befreiten sie und zwei Mitgefangene – Gina DeJesus und Michelle Knight. Die damals 14-jährige DeJesus verschwand 2004. Knight, damals 20, wurde zuletzt im August 2002 gesehen. „Der Alptraum ist vorbei“, sagte der verantwortliche FBI-Agent Steven Anthony am Dienstag nach Jahren der Vermisstensuche sichtlich erleichtert.
„Ich sehe dieses Mädchen ausflippen“
Der Held des Tages, Charles Ramsey, aß gerade zu Mittag, als er auf eine junge Frau aufmerksam wurde, die im Nachbarhaus seines von vielen Latinos bewohnten Viertels um Hilfe rief und verzweifelt aus einem Spalt an der Tür winkte. „Ich hörte Schreie. Ich esse mein McDonald's. Ich gehe raus. Ich sehe dieses Mädchen ausflippen“, sagte er. Er habe angenommen, es würde sich um einen Fall von häuslicher Gewalt handeln und trat mit einem weiteren Nachbarn die Tür ein.
Nervenaufreibende Minuten folgen: Von einem Nachbarhaus aus ruft die entkommene Berry die Polizei. Der Beamte am anderen Ende der Leitung versichert ihr, es würde sich ein Wagen auf den Weg machen, sobald einer zur Verfügung stehe. „Ich brauche Sie jetzt, weil er zurückkommt“, sagt Berry verzweifelt. Er, das ist der 52 Jahre alte Hauptverdächtige Ariel Castro, ein ehemaliger Schulbusfahrer.
Die eintreffende Polizei stürmt schließlich das Haus. Sie finden neben den anderen beiden Frauen auch ein sechsjähriges Mädchen. Sehr wahrscheinlich sei das Berrys Tochter, sagen die Ermittler. Sie habe während ihrer Gefangenschaft ein Kind zur Welt gebracht, meint auch ihr Schwager im TV-Sender 19Action News. Ein Foto aus dem Krankenhaus, aufgenommen nach der Befreiung, zeigt zwei lächelnde junge Frauen und ein Kind. Wer der Vater ist, will die Polizei zunächst nicht sagen.
Jahrelang im Dunkeln getappt
Auch, was sich in all den Jahren in dem Haus in der Seymour Avenue abgespielt hat, können oder wollen die Ermittler am Dienstag bei einer Pressekonferenz nicht offenlegen. Clevelands Bürgermeister Frank Jackson spricht von einer „traumatischen Erfahrung“ der Frauen. Ob Castro sie als Sexsklaven gehalten hat, fragt ein Reporter. Sie müssten erstmal behutsam von Spezialisten befragt werden, entgegnet Anthony. Ganz wichtig sei jetzt, dass öffentliche Spekulationen keine weiteren psychologischen Schäden bei den Opfern anrichteten.
Laut Clevelands Direktor für öffentliche Sicherheit, Martin Flask, erhielten die Behörden niemals Hinweise, dass in dem Haus etwas Ungewöhnliches vor sich gehen könnte. „Ich hatte keine Ahnung, dass da noch jemand in dem Haus war“, sagt auch Ramsey, der etwa seit einem Jahr nebenan wohnt. „Ich habe mit dem Kerl gegrillt.“ Nur einmal war Castro ins Visier der Polizei geraten: Als er 2004 ein Kind in seinem Schulbus sitzen ließ, als er ihn im Depot abstellte. Doch die Ermittler glaubten ihm, dass es ein Versehen war.
Mit der Befreiung der Frauen sind gleich drei Vermisstenfälle gelöst, die die Stadt seit rund einem Jahrzehnt mehr oder minder stark beschäftigten. Immer wieder habe das FBI Zeugen befragt, sei jedem Hinweis nachgegangen, sagte Anthony. Auf der Suche nach möglichen Leichen hätten die Ermittler sogar mehrfach Vorgärten ausgehoben. „Diese drei Mädchen gesund aufzufinden, das gibt uns richtig Auftrieb“, sagt Clevelands Polizeichef Michael McGrath.
Auch die Familien der drei Entführten hatten die Hoffnung nicht aufgeben. „Das ist ein Wunder“, sagt Sandra Ruiz – die Tante von Gina DeJesus – am Dienstag tief berührt auf Spanisch in die Fernsehkameras. „Gina geht es gut, allen Mädchen geht es gut. Wer nicht an Gott glaubt, muss das jetzt tun.“