Helfer suchen fieberhaft nach Verschütteten - Zahl der Toten steigt auf rund 280 - Eingeschlossene Menschen rufen aus Schutt um Hilfe - Über 200 Nachbeben seit Sonntag
Ercis/Istanbul. Angetrieben von den Schreien verzweifelter Verschütteter haben die Helfer nach dem Erdbeben in der Türkei am Montag in den Trümmern nach Überlebenden gegraben. „Hab Geduld, hab Geduld“, riefen die Retter einem wimmernden Jungen zu, der unter einer Betonplatte eingeklemmt war. Unmittelbar vor seinem Gesicht hing die leblose Hand eines Erwachsenen mit einem Ehering am Finger. Mindestens 279 Menschen wurden nach Regierungsangaben bei dem Beben der Stärke 7,2 im vorwiegend von Kurden bewohnten Südosten der Türkei getötet, über 1300 verletzt. Nach dem schwersten Beben in der Türkei seit zehn Jahren vermuteten die Helfer Hunderte weitere Tote unter den Trümmern der Lehmziegelhäuser in den abgelegenen Dörfern im Südosten des Landes. Tausende Obdachlose mussten die Nacht bei Temperaturen um den Gefrierpunkt im Freien verbringen.
Ein Reuters-Fotograf beobachtete, wie eine Mutter und ihre Tochter in den Trümmern eines ursprünglich sechsstöckigen Hauses unter einer Betonplatte geborgen wurden. „Ich bin hier, ich bin hier“, schrie die Frau mit heiserer Stimme. Die Retter sprachen immer wieder beruhigend auf sie ein. Sie benötigten mehr als zwei Stunden, um zu ihr vorzudringen, die Betonplatte zu durchtrennen und sie zu befreien.
Vor der Ruine eine vierstöckigen Hauses berichtete eine Lehrerin den Helfern, dass sie über Handy mit einer Freundin gesprochen habe – sechs Stunden, nachdem das Beben diese in den Trümmern eingeschlossen hatte. „Sie ist meine Freundin und sie hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass sie lebt und im Schutt nahe den Treppen des Gebäudes feststeckt“, erklärte sie. „Sie sagte, sie trage einen roten Schlafanzug“, fügte sie hinzu, während verzweifelte Verwandte die Retter zur Eile drängten.
In der Millionenstadt Van, die umgeben von schneebedeckten Bergen an einem See liegt, trugen Kräne die Trümmer einer eingestürzten sechsstöckigen Mietshauses ab, unter dem die Helfer 70 Menschen vermuteten. Ministerpräsident Tayyip Erdogan flog in der Nacht nach Van, um sich über das Ausmaß der Schäden des Bebens vom Sonntag zu informieren. Das Erdbebengebiet zählt zu den Regionen, in denen die Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK sehr aktiv sind. Erdogan äußerte sich besorgt über die Lage in den Dörfern, in die die Retter bisher noch nicht vorgedrungen sind. „Weil die Häuser aus Lehmziegeln gebaut sind, sind sie viel empfindlicher bei einem Beben“, sagte der Ministerpräsident in einer nächtlichen Pressekonferenz. „Ich muss sagen, dass in diesen Dörfern fast alle Häuser zerstört sind“.
Leid türme sich auf Leid in der Region, berichteten die Zeitungen. Erst vergangene Woche waren bei einem PKK-Anschlag in Hakkari südlich von Van 24 türkische Soldaten getötet worden. In türkischen Sicherheitskreisen hieß es, Panzer des Landes seien am Montag in den Nordirak in Richtung eines PKK-Lagers vorgerückt. „Heimat des Schmerzes – gestern der Terrorismus, heute das Erdbeben“, titelte die Zeitung „Radikal“.
Erdogan war mit dem Hubschrauber auch nach Ercis geflogen. Die 100.000-Einwohner-Stadt war stärker als Van von dem Beben betroffen. 55 Gebäude dort sind eingestürzt, darunter ein Studentenwohnheim. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen noch unter den Trümmern begraben sind“, sagte Erdogan.
In der Ruine eines vierstöckigen Gebäudes in Ercis versuchten Feuerwehrleute, zu vier vermissten Kindern vorzudringen. Helfer trugen zwei schwarze Leichensäcke, einer offenbar mit einem Kind, zu einem Rettungswagen. Eine alte Frau mit einem Kopftuch lief weinend neben ihnen her. Ein verzweifelter Mann rannte hin und her, ehe er in den Trümmern auf die Rettungskräfte zulief. „Das ist das Haus meines Neffen“, rief er weinend, während die Retter versuchten, ihn zurückzuhalten. In der Nähe verteilten Helfer Brot und andere Lebensmittel, während in Decken gehüllte Menschen die kalte Nacht an Lagerfeuern auf den Straßen verbrachten.
Stromausfälle behinderten die Bergungsarbeiten, da das Beben auch die elektrischen Leitungen unterbrochen hatte. Auch die Hauptverbindungsstraße zwischen Van und Ercis wurde beschädigt, wie CNN berichtete. Mehr als 200 Nachbeben erschütterten die Region seit Sonntag. Nach Angaben des Roten Kreuzes trafen inzwischen rund 100 Spezialisten im Erdbebengebiet ein, um die Hilfe zu koordinieren. Etwa 5000 Zelte, 11.000 Decken, Kocher und Lebensmittel wurden verteilt und mobile Küchen aufgebaut, wo sich die Obdachlosen mit Essen versorgen konnten.
Erdogan flog später nach Ankara zurück, um bei einer Kabinettssitzung über die Reaktion auf die Naturkatastrophe zu beraten. Die Türkei könne sich aber selbst helfen, sagte er mit Blick auf zahlreiche Hilfsangebote aus dem Ausland. Auch Armenien und Israel, die gespannte Beziehungen zur Türkei haben, boten Unterstützung an. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zeigte sich tief erschüttert über die Naturkatastrophe.
Mehrere bedeutende Verwerfungslinien durchziehen die Türkei, wo es fast täglich zu kleineren Beben kommt. Bei zwei großen Erdbeben 1999 im Nordwesten des Landes starben über 20.000 Menschen.