Bis zu 100 Opfer an Unesco-Modellschule. Politiker fordern “null Toleranz“ und verlangen eine Überprüfung der Verjährungsfristen.
Berlin/Frankfurt. Nach der Serie von Übergriffen in katholischen Einrichtungen erschüttert ein neuer Missbrauchsskandal Deutschland: Auch an der nicht konfessionellen Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim, die seit den 60er-Jahren Unesco-Modellschule ist und zu deren ehemaligen Schülern Prominente wie Schriftsteller Klaus Mann oder Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit gehören, sind Jugendliche über Jahre auf übelste Art misshandelt worden.
"Es ist für mich eine Tatsache, dass hier mindestens seit 1971 sexueller Missbrauch stattgefunden hat", bestätigte die Leiterin der Eliteschule, Margarita Kaufmann. Die "Frankfurter Rundschau" hatte berichtet, Schüler seien von Lehrern unter anderem als "sexuelle Dienstleister" für ganze Wochenenden eingeteilt und zum Oralverkehr gezwungen worden. Pädagogen hätten ihren Gästen sogar Schüler zum sexuellen Missbrauch überlassen. Von 1971 bis 1985 könnte es bis zu 100 Opfer gegeben haben.
Die steigende Zahl der Missbrauchsfälle hat jetzt auch die Politik auf den Plan gerufen. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) will die Prävention gegen Missbrauch und Gewalt in Schulen verstärken und drängt auf "null Toleranz". Sie kündigte in der "Bild am Sonntag" Beratungen mit der Kultusministerkonferenz und den Lehrerverbänden in den nächsten Tagen an. SPD-Bundesvorstandsmitglied Ralf Stegner stellte die gesetzlichen Verjährungsfristen infrage. "Es muss gelingen, die Dunkelziffer zu verringern und das zum Teil jahrzehntelange Schweigen aufzubrechen", sagte er dem Hamburger Abendblatt. "Gesetzliche Verjährungsfristen sollten in diesem Zusammenhang überprüft werden." Patrick Meinhardt, Mitglied des FDP-Fraktionsvorstandes, mahnte eine "Kultur des Hinsehens" an. Zudem müsse die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit den Ländern nach Lösungen suchen, wie nach dem Bekanntwerden solcher Missbrauchsfälle rasch reagiert werden könne. "Deutschlands Eltern müssen erwarten können, dass alles unternommen wird, um Gewalt an Schülern in der Schule zu vermeiden", sagte die stellvertretende CSU-Generalsekretärin Dorothee Bär dem Abendblatt.
Die Odenwaldschule will nun systematisch alle Schüler der betroffenen Jahrgänge anschreiben. 900 Briefe sollen heute an Altschüler versandt werden.