Weil der 26-jährige Ahmet einen Mann liebte, wurde er von seinem Vater erschossen. Nun kämpft Ahmets Freund für die Rechte Homosexueller in der Türkei.
Istanbul. Leicht provozierend wirken sie schon, die beiden jungen Männer mit dem gefärbten Haar und den Dolce-&-Gabbana-Shirts. Warum müssen sie so abrupt stehen bleiben, sich umarmen und küssen - mitten auf dem überfüllten Fußweg zwischen Kölner Dom und Museum Ludwig? Schon stolpert ein Passant um sie herum und guckt mürrisch, während ein paar Mädchen einen Bogen um das Paar schlagen und lächeln.
Aber der missmutige Mann gefällt Ibrahim Can besser. "Den nerven die Schwulen und trotzdem geht er weiter. Ohne zu fluchen. Ohne handgreiflich zu werden. Reicht doch. Man muss uns nicht mögen. Leben lassen genügt", sagt Can, der vom Museumscafé aus die Szene beobachtet. Während er so spricht, denkt Can wohl an seinen Lebensgefährten Ahmet. Der 26-Jährige wurde von seinem Vater erschossen, weil er schwul war.
Seit diesem Mord versucht der Deutschtürke Can in seinem Herkunftsland gegen ein Klima zu kämpfen, in dem Eltern wegen eines schwulen Sohnes zu Mördern werden. Soeben ist er aus Istanbul zurückgekehrt, wo er am Prozessauftakt gegen den flüchtigen Vater teilgenommen hat.
In der Türkei schlägt das Verfahren hohe Wellen, weil es erstmalig den "Ehrenmord" an einem Schwulen verhandelt. Aber auch Ibrahim ist seitdem aufgewühlt. Die Erinnerungen schießen ihm durch den Kopf. An ihre Pläne, an schöne Momente - und an den 15. Juli 2008, Ahmets Todestag: Im Istanbuler Stadtteil Bulgurlu verlässt Ahmet die gemeinsame Wohnung, um sich ein Eis zu kaufen. Als er bereits im Auto sitzt, taucht (laut Staatsanwaltschaft) sein Vater vor der Windschutzscheibe auf. Mit einer Pistole zielt er auf seinen Sohn. Und drückt ab. Ahmet versucht den Wagen noch am Vater vorbei zu lenken und rast in eine Apotheke.
Derweil sitzt Ibrahim im dritten Stock am Computer. Als er die Schüsse hört, läuft er auf die Straße und reißt die Autotür auf. Blutend, aber friedlich liegt Ahmet dort mit geschlossenen Augen auf dem Fahrersitz. Ibrahim schreit: "Stirb nicht, stirb nicht!". Dann, für zwei Sekunden, öffnet Ahmet seine Augen. Und ist tot.
Hätte Ibrahim - der 18 Jahre Ältere - seinen Freund davon abhalten müssen, den Eltern seine Homosexualität zu beichten? "Ich habe ihm abgeraten", beteuert Ibrahim, "aber Ahmet hatte plötzlich nur noch ein Verlangen: raus mit der Wahrheit. Er glaubte nicht mehr, mit dieser Lüge leben zu können". Tatsächlich hatte Ahmet lange Zeit ein Doppelleben geführt. Etwa als Physikstudent auf einem frommen Hochschulinternat: Tagsüber betet er und verkündet im Kreis der religiösen Studenten, er werde bald heiraten und Kinder bekommen, er sei doch kein "Ibne" (Schimpfwort für Schwule); abends zieht er durch die Hamam-Bäder der Stadt und sucht Sex mit diesen Ibnes. Er wechselt an die Uni Istanbul. Dort besucht er nachts Schwulen-Bars. Aber tagsüber, im Kreis seiner weltlichen Kommilitonen, lacht er über Schwulenwitze.
Eines Abends im Sommer 2007 lernt er in einer Bar Ibrahim aus Köln kennen, der seinen Urlaub in Istanbul verbringt. Es funkt. Und schon bald investieren sie ihr gesamtes Geld in Flüge zwischen Istanbul und Köln. Ibrahim ist hingerissen vom Jüngeren ("stark, männlich, humorvoll"), Ahmet fühlt sich angezogen von Reife und Zärtlichkeit des Älteren. Unter türkischen Schwulen, erzählt Ibrahim, sei Zärtlichkeit verpönt. Aus Scham.
Als Ahmet einmal Köln besucht, erlebt er eine Art Freiheitsschock: Vor dem Kölner Rathaus bestaunt er eine schwule Hochzeitsfeier. Im Konfetti-Regen schreiten die Eheleute aus dem Rathaus und küssen sich öffentlich. Vor zahllosen Passanten! Und dann auch noch vom Staat abgesegnet! Ahmet ist beeindruckt. Noch am selben Tag schmieden auch Ibrahim und Ahmet Hochzeitspläne. Zur Feier ihrer gemeinsamen Zukunft ziehen sie abends durch die Altstadtkneipen, in denen Ahmet intensiv deutsche Biersorten studiert.
Kurz darauf, im Oktober 2007, greift Ahmet bibbernd zum Telefon, ruft seinen Vater an und teilt ihm mit, er sei schwul. Er wolle nicht mehr heucheln. Der Vater legt zunächst geschockt auf. Doch ein paar Tage später beginnt eine Serie schwerer Telefonate zwischen der Familie in Südanatolien und ihrem Sohn in Istanbul. Die Eltern kämpfen um ihr Kind. Sie drängen ihn, einen Psychiater zu suchen, der seine Krankheit heilen werde. Der Vater will die Therapie bezahlen, obwohl er als Gemüsehändler wenig verdient. Die halbe Großfamilie klingelt bei Ahmet. Stets weinen sie und appellieren an sein Gewissen: Er habe doch auch mit dem Rauchen aufgehört. Warum versuche er nicht, dieses andere Laster ebenfalls loszuwerden?
Die Eltern gehen bis an ihre Grenze: Schlimmstenfalls könne Ahmet heiraten und Kinder zeugen und nebenbei, im Geheimen, seine Krankheit ausleben? Der 26-Jährige bekniet seine Eltern, ihn zu akzeptieren. Er könne nicht anders. Er wolle nicht anders, er sei nicht krank. Nur schwul. Dann beginnen die Drohungen: Verwandte erinnern Ahmet an das Prophetenwort, demzufolge man Schwule töten solle (dieser Ausspruch gilt Reformmuslimen nicht als authentisch). Schließlich drohen sie unverhohlen mit Mord, wenn er nicht aufhöre, Schande über die Familie zu bringen. Der Kontakt reißt ab. Ahmet wendet sich an die Polizei. Doch die unternimmt nichts. Bis der Vater sein geliebtes Kind ermordet.
Verstörenderweise versicherte die Familie Ahmet tatsächlich bis zuletzt, wie sehr sie ihn liebe. Auch Ibrahim Can bestätigt, wie sehr die Eltern ihr Kind ins Herz geschlossen hätten: "Er war lange ihr einziger Sohn, sie verwöhnten und hätschelten ihn wie einen kleinen Pascha". Doch in der ultrakon-servativen, traditionell-religiösen Dorfwelt, der die Eltern entstammen, gehört Schwulsein laut dem türkischen Schwulenverband Lambda zum Schlimmsten, womit ein Mensch gestraft werden kann. Ist von Schwulen die Rede, dann nur in einem Sinn: als Krankheit, Dreck, Sünde, die bestraft gehöre.
"Wie homophob konservative Türken sind, kann sich in Deutschland kaum einer vorstellen", sagt Can, während er im Café des Kölner Museums Ludwig sitzt, wo sich eben noch das schwule Pärchen küsste. Can sucht nach Worten, um das begreifbar zu machen, gestikuliert, kratzt sich den Schnäuzer - und hat einen Vergleich zur Hand: Deutsche Konservative akzeptierten die Homo-Ehe nur zähneknirschend, aber türkische Konservative akzeptierten gar nichts, "oft nicht einmal das Lebensrecht Schwuler". Deshalb bekenne sich auch kaum ein Türke offen zu seiner Homosexualität. Aus Angst.
Dass diese Furcht begründet sein kann, dokumentieren Menschenrechtsorganisationen. Sie berichten von Schwulenschikane in türkischen Behörden, von Transvestiten-Folter auf Polizeistationen oder fehlender Strafverfolgung bei Gewalt an Homosexuellen. Allein seit dem Mord an Ahmet haben sie 17 weitere Ehrenmorde an schwulen Türken gezählt.
Doch Opfer und Angehörige wagen sich nur selten an die Öffentlichkeit, weil das Folgen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung haben kann. Schließlich ist die Werbung für Homosexualität laut geltender Rechtsprechung strafbar. Und schon die öffentliche Präsenz Homosexueller lässt sich als Werbung werten. Aus diesem Grund musste sich auch die Schwulen- und Lesbenvereinigung Lambda schon vor Gericht gegen ihr Verbot wehren.
Diesem Klima hat Can den Kampf angesagt. Vergangene Woche verlas er nach der Verhandlung in Istanbul am Gerichtsgebäude eine Erklärung. Klopfenden Herzens sagte er vor Dutzenden Polizisten, Journalisten und Passanten, es gebe viele schwule Türken, die sich ein Leben ohne ständige Lüge wünschten. Freundliche, brave Mitbürger, die einfach nur gerne ehrlich wären. Man müsse diese Schwulen nicht mögen, schon gar nicht lieben. Leben lassen reiche völlig. Niemand wagte es, ihn auszulachen.