Unikate aus dem Mittelalter, Handschriften mit kaiserlichem Siegel, einzigartige Schreinsbücher und 800 Nachlässe von berühmten Komponisten, Architekten, Literaten - Schätze aus tausend Jahren liegen unter Trümmern begraben. Eine der größten und bedeutendsten Archiv-Sammlungen in Europa, gelagert auf 30 Regalkilometern im Historischen Archiv in Köln, ist untergegangen.
Experten sprachen am Mittwoch von einem Kulturgut von unschätzbarem Wert, das nach dem Gebäude-Einsturz möglicherweise zu größeren Teilen nicht mehr zu retten und zu rekonstruieren sei. "Das Archiv gehörte in Umfang und Breite zu den ganz großen und bedeutenden Stadtarchiven und hat besonders wertvolle, hochrangige Bestände", sagt Robert Kretzschmar, Vorsitzender des Verbands deutscher Archivare.
"Die Schäden werden gigantisch sein", meint Archiv-Leiterin Bettina Schmidt-Czaia geschockt. "Ich glaube, außerhalb des Zweiten Weltkriegs hat es das noch nie gegeben, dass ein so bedeutendes Archiv komplett untergegangen ist." 2004 hatte die Historikerin die Leitung des größten kommunalen Archivs nördlich der Alpen übernommen und geschwärmt von einem Bestände-Reichtum und Überlieferungswert, der in Deutschland unübertroffen sei. Nun ringt Schmidt-Czaia um Fassung: "Wir versuchen zu bergen und zu retten, was zu retten ist, aber ich habe nicht viel Hoffnung, es wird wohl eher minimal sein." Dagegen sind NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff und Kölns Kulturdezernent Georg Quander optimistischer.
Erschütterung dürfte auch bei der Familie des Nobelpreisträgers Heinrich Böll (1917-1985) herrschen. Erst vor einigen Wochen hatte Sohn Rene Böll das Privatarchiv seines Vater verkauft und damit den gesamten Böll-Nachlass dem Historischen Archiv anvertraut. Es falle ihm schwer sich zu trennen, aber die Lagerungsmöglichkeiten seien im Archiv eben besser. "Wir können die Sachen ja auch mal ausleihen", hatte Rene Böll sich zu trösten versucht. Ob das noch möglich ist, konnte am Tag nach dem Unglück allerdings niemand sagen.
Aber auch Nachlässe anderer Größen von Weltrang wie des Komponisten Jacques Offenbach oder des ersten Bundeskanzlers und einstigen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer sind vielleicht für immer verloren. Dessen gleichnamiger Enkel ist entsetzt: "Der ganze Nachlass aus der Kölner Zeit bis 1945 lagerte dort. Für unsere Familie und die Stadt Köln ist das ein ganz schwerer Verlust." Dokumente aus der Zeit Adenauers als Bundeskanzler seien aber in Rhöndorf bei Bonn in Sicherheit. Zugleich kritisierte Notar Adenauer in Richtung Stadt: "Es muss ein Versagen vorliegen. Es gab genug Anzeichen, und der Einsturz hätte sicher vermieden werden können. Wenn man einen solchen Schatz hütet, ist es unverantwortlich, dessen Sicherheit auf die leichte Schulter zu nehmen."
Weltberühmt sind auch die sogenannten Schreinsbücher. Diese gelten als einzigartig und unersetzbar, erklärt Kretschmar. "Das ist ein Häuser-Verzeichnis aus dem Mittelalter, alles Unikate, die so kostbar waren, dass sie in Schreinen aufbewahrt wurden." Dokumente aus Klöstern und Stiften gehörten ebenfalls zum Stolz des Archivs, genauso wie die älteste Urkunde aus dem Jahr 922. Wertvolle historische Urkunden könnten laut Grosse-Brockhoff wohl weitgehend geborgen werden.
Archivalien im Versicherungswert von 400 Millionen Euro liegen im Schutt, sagt Quander. Dramatischer sei aber der geistige Verlust, der sogar schlimmer ausfallen könne als beim Brand der Anna-Amalia- Bibliothek. Die größte Gefahr für den verschütteten Kulturschatz ist nun Wasser von oben und von unten. Um die zerbrechlichen Papiere vor Regen zu schützen, soll eine Plastikpläne über den Trümmern ausgebreitet werden. Manuskripte, Fotos oder Urkunden, die in den Krater vor dem Gebäude gestürzt sind, hat das Grundwasser aber wohl schon unwiederbringlich zerstört für die Nachwelt. Ein schneller Tiefkühlprozess könnte laut Quander noch Abhilfe schaffen - aber am Tag danach kommt noch niemand an die gefährlichen Stellen heran.
Die wichtigsten Bestände deutscher Archive werden zum Schutz vor Verlust bei Kriegen oder Katastrophen abgefilmt und zentral im Oberrieder Stollen im Schwarzwald eingelagert. Auch die wichtigsten Bestände des Historischen Stadtarchivs in Köln sind dort nach Angaben des zuständigen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) eingelagert. Seit 1961 haben sich die Bestände kontinuierlich erhöht, heute liegen in dem Stollen laut BBK 2000 Tonnen Mikrofilmmaterial mit insgesamt 870 Millionen Aufnahmen.
Pro Jahr werden laut BBK mehr als 15 Millionen Einzelaufnahmen von den "Sicherungsverfilmungsstellen" des Bundes und der Länder gemacht und im Oberrieder Stollen eingelagert. In langen speziell belüfteten Gängen lagern dort die Mikrofilme in Stahlbehältern. Im Gegesatz zu digitalen Daten können Mikrofilme in dem Stollen nach Angaben des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare über mehrere Jahrhunderte ohne schwerwiegende Schäden überdauern.
Die zentrale Einlagerung geht zurück auf die Haager "Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten" vom 14. Mai 1954, die von Deutschland und rund 90 weiteren Staaten ratifiziert worden ist. Schon in Friedenszeiten verpflichten sich die Unterzeichner, "die Sicherung des Kulturguts auf ihrem Gebiet gegen die absehbaren Folgen eines bewaffneten Konflikts vorzubereiten, indem sie alle Maßnahmen treffen, die sie für geeignet erachten".
Diese Vorsichtsmaßnahmen sind nun für die Kölner Archivare ein Glücksfall - auch wenn ein Archiveinsturz in Friedenszeiten bei der Haager Konvention sicher nicht bedacht wurde. Nach Angaben des BBK-Referatsleiters für Kulturgutschutz, Bernhard Preuss, wird nun zunächst ausgewertet, welche Kölner Archivalien im Schwarzwald als Sicherungsverfilmung liegen. Diese Filme sollen dann gehoben und dem Kölner Stadtarchiv für erneute Kopien zur Verfügung gestellt werden.