Lena Meyer-Landrut stürmt die deutschen Charts. Doch am 29. Mai entscheidet sich, ob auch der (europäische) Rest der Welt die 18-Jährige liebt.
Hamburg/Hannover. Deutschland liebt Lena. Selbst sonst zynische Medienkritiker und Kulturpessimisten erklären, ihr Herz oder ihr Ohr an die 18-jährige Nachwuchssängerin aus Hannover verloren zu haben. Ihre frische, unbekümmerte, und dabei doch professionelle Art, mit der sie mit dem Hype um ihre Grand-Prix-Teilnahme umgeht, stimmt selbst den manchmal zu Gehässigkeit neigenden Boulevard milde.
Ihr etwas schräger Sprechgesang, ihr unrhythmischer Song „Satellite“ haben das gewisse Etwas, laufen im ansonsten langweiligen deutschen Formatradio rauf und runter. Doch am 29. Mai geht es nicht um Deutschland, es geht um den (europäischen) Rest der Welt – ob auch der Lena liebt?
Der erste Eindruck: Ja! Ausgerechnet im Mutterland des Pop ist man begeistert von dieser jungen Deutschen mit dem ungewöhnlichen Nachnamen Meyer-Landrut, die im Slang einer Londoner Vorstadtgöre Singer/Songwriter-Weisheiten von sich gibt – Kate Nash, Duffy, Adele oder Lily Allen lassen grüßen. Die britischen Radios spielen „Satellite“ wie selbstverständlich, die Buchmacher führen Lena als Favoritin beim Eurovision Song Contest. Patriotismus goodbye.
Kein Wunder, bei dem fast schon peinlichen Beitrag „That Sounds Good To Me“ des jungen Sängers Josh Dubovie, der gute Chancen auf den letzten Platz hat – wie schon 2008 und 2003. So richtig ernst nehmen die europakritischen Briten den Wettbewerb anscheinend nicht mehr, den sie im vergangenen Jahrtausend immerhin fünfmal gewonnen haben. Ein Ausreißer war im vergangenen Jahr die Andrew-Lloyd-Webber-Hymne „My Time“, die auf Platz fünf kam.
Auch aus dem Grand-Prix-verrückten Skandinavien kommt dickes Lob für Lena: „Ich liebe sie, ich denke, sie wird gewinnen“, sagt der norwegische Vorjahressieger Alexander Rybak. Sie brauche keine aufwendigen Bühneneffekte, kein Bumm-Peng-Bamm. „Sie ist die Show, sie geht ehrlich mit der Kamera um und lächelt.“ Selbst die Konkurrenz zollt Lena Respekt, deren Song nicht nur in westlichen Ohren gut klingt. „Bei diesem Lied kann man seinen Gedanken freien Lauf lassen“, lobt die aserbaidschanische Kandidatin Safura, die mit ihren gerade einmal 17 Jahren selbst als heiße Kandidatin auf den Sieg gilt.
Lenas Positiv-Image ist Balsam auf die geschundene Grand-Prix- Seele beim verantwortlichen Norddeutschen Rundfunk (NDR), nach dem letzten Platz der No Angels 2008 und dem unsäglichen 2009er-Beitrag „Miss Kiss Kiss Bang“ (Platz 20), der nicht vom Publikum ausgewählt, sondern hinter verschlossenen Türen gekürt wurde. NDR- Unterhaltungschef Ralf Quibeldey gibt sich zwar diplomatisch zurückhaltend, wenn er sagt: „Wir freuen uns, wenn wir bei dieser musikalischen Europameisterschaft eine Platzierung unter den Top Ten erreichen.“ Doch viele seiner Mitarbeiter, die NDR-Grand-Prix-Fans, glauben fest an einen Sieg oder wenigstens einen Top-5-Platz.
Euphorie und Wunschdenken? Sicherlich, aber nicht ganz ohne Berechtigung. Unter den 39 Teilnehmern (drei weniger als 2009) stechen nur wenige wirklich heraus: Die Griechen Giorgos Alkaios & Friends demonstrieren mit „OPA!“ Ethno-Pop irgendwo zwischen Sirtaki und Balkan-Party – das geht richtig ab. Im langsameren Segment überzeugt Safura als eine Art junge Jennifer Rush des Kaukasus. Gleich drei langhaarige Gesangselfen bietet Kroatien auf: Das Trio Feminnem dürfte mit der kraftvollen Ballade „Lako je sve“ und einem eingängigen Refrain sicher bei männlichen Grand-Prix-Fans ebenso landen wie in der breiten Balkangemeinde. Die Türken sind immer für einen Top-Ten-Platz gut – so auch diesmal: Die Gruppe maNga liefert mit „We Could Be The Same“ aber nicht die erwartete Ethno-Nummer ab, sondern einen interessanten Rap-Rock-Mix, der nur ganz leichte folkloristische Anklänge enthält. Gastgeber Norwegen und Rekordgewinner Irland (sieben Siege) liefern sich ein besonderes Duell: „My Heart Is Yours“ von Didrik Solli-Tangen und „It's For You“ der irischen 93er-Siegerin Niamh Kavanagh klingen wie zwei Versionen ein und desselben Liedes – und vor dem geistigen Auge tauchen dabei unweigerlich Leonardo di Caprio und Kate Winslet als lebende Galionsfiguren der „Titanic“ auf. Céline Dions Filmhit „My Heart Will Go On“ hat hier hörbar Pate gestanden.
Doch Prognosen, Tipps und Wetten sind bei diesem Wettbewerb, der vom Musikgeschmack der Fans und Jurys in 39 sehr unterschiedlichen Ländern abhängig ist, mehr als schwierig. Auch Texas Lightning und Roger Cicero gingen 2006 und 2007 mit vielen Vorschusslorbeeren ins Rennen, landeten später aber auf hinteren Plätzen. Dabei spielt auch der Qualifikationsmodus eine Rolle. Nur fünf Länder sind bereits für das Finale qualifiziert – die großen vier Geldgeber Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien sowie Gastgeber Norwegen. Die anderen müssen sich in zwei Halbfinals (25. und 27. Mai) qualifizieren – je 17 Länder treten an, je zehn kommen ins Finale.
Wer diese Hürde souverän nimmt, hat einen unbestreitbaren Vorteil: Selbstvertrauen in die eigene Stärke, ein Gefühl für die große Grand- Prix-Bühne mit Millionen TV-Zuschauern sowie eine gewisse Bekanntheit bei den Eurovisions-Fans in aller Herren Länder.