Moskau/Hamburg. Nach der Auftaktpleite gegen Mexiko werden allerhand DFB-Baustellen offenbar. Das Ausscheiden scheint nur eine Frage der Zeit.
Zugegeben, so früh den Stab über der Mannschaft zu brechen, ist eigentlich populistisch und billig. Doch das, was sich zum verlorenen deutschen Auftaktspiel der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Mexiko (0:1) innerhalb des DFB-Kaders auf und neben dem Platz abspielte, sind andererseits auch keine plötzlich zutage tretenden Indizien für ein mögliches WM-Desaster des Titelverteidigers.
Wer trotz aller Widrigkeiten an einen erneuten Finaleinzug von Joachim Löw und der "Mannschaft" glaubt, möge hier abbiegen. Alle anderen dürfen an dieser Stelle weiterlesen – und sich von Pessimismus getragene zehn Gründe zu Gemüte führen, weshalb der Titel in Russland für Deutschland ein Traum bleiben wird.
Die Spielweise:
Die Experten sind sich einig: Die Balance zwischen Offensive und Defensive stimmt nicht. "Unsere Absicherung ist nicht gut, das muss man ganz klar sagen", sagte Innenverteidiger Mats Hummels nach der Niederlage gegen Mexiko auch im Namen seines Partners Jerome Boateng: "Jerome und ich stehen da oft alleine da."
Ein Plan B, auf den die Mannschaft auf einen Spielverlauf reagieren kann, scheint nicht vorhanden zu sein. Nicht nur DFB-Manager Oliver Bierhoff räumte ein, dass die deutsche Elf von Mexiko überrascht worden sei. "Sie haben uns auf eine andere Art gelockt, wie wir es erwartet hatten", sagte Bierhoff.
"Khedira und Kroos bekommen im Zentrum insgesamt deutlich zu wenig Unterstützung, auch von Draxler und auf der anderen Seite auch von Müller", stellte ZDF-Experte Oliver Kahn fest.
DFB-Elf in der Einzelkritik: Khedira mit Note 6
Neben Problemen im defensiven Umschaltspiel und Lücken im Mittelfeld wird auch das Flügelspiel durch den Ausfall Jonas Hectors nicht unbedingt unberrechenbarer. Die Gegner haben sich auf den Löw-Stil eingestellt, eigene Überraschungsmomente werden zunehmend seltener. Auch die Fitness lässt zu wünschen übrig.
"Wir konnten gerade in der ersten Halbzeit das Tempo nicht hochhalten, keinen Druck ausüben. Wir waren auch ein bisschen ratlos, was wir machen sollen", gestand Bierhoff. Die Ineffizienz drücken auch folgende Zahlen aus: Trotz 26:13 Torschüssen, 518:232 angekommener Pässen, 66 Prozent Ballbesitz und 8:1 Ecken stand am Ende die deutsche Null. Alarmierend liest sich die Zweikampfquote von 44:56 Prozent.
Pressestimmen zu Deutschland vs. Mexiko
Die Statistik:
Drei von vier Titelverteidigern schieden bei den vergangenen WM-Endrunden bereits in der Vorrunde aus (Frankreich 2002/Italien 2010/Spanien 2014). 2006 scheiterte Brasilien im Viertelfinale. Dort war auch 1994 für Deutschland Schluss, als die DFB-Elf letztmals als amtierender Weltmeister ins Turnier ging.
In jüngerer Vergangenheit ist es ohnehin keiner Nation gelungen, den Titel zu verteidigen. Dies schafften bislang überhaupt erst zwei Länder (Italien 1938/Brasilien 1962). Sechs Mal verlor bislang ein Weltmeister sein Auftaktspiel. Zweimal stand danach immerhin noch ein zweiter Platz – aber eben kein Weltmeistertitel. Auch Deutschland wurde nach der bis Sonntag letzten Startniederlage immerhin noch Vize (1982).
Die Auftaktniederlagen der Titelverteidiger
Das Mannschaftsgefüge:
Im Juni 2015 brach der DFB eine neue Bezeichnung für sein Aushängeschild übers Knie: "Die Mannschaft" soll seither den unerschütterlichen Zusammenhalt plakatieren. Drei Jahre nach Einführung des umstrittenen Namens ist die deutsche Nationalmannschaft mehr denn je von diesem frommen Gedanken entfernt. Nicht nur Ex-Kapitän Michael Ballack kann bei dem aktuellen Aufgebot "keinen Teamgeist" erkennen.
Die Körpersprache mit hängenden Köpfen, abfälligen Handbewegungen oder Sitzstreiks während des WM-Auftakts demonstrieren: Hier läuft niemand für den anderen, und schon gar keinen Meter zu viel. Selbst ein WM-Debütant wie Timo Werner, der gegen Mexiko bei einer Chance in der 20. Minute nur durch Eigensinn bestach, erlaubte sich gegen Ende des Spiels nach dem missrateten Zuspiels eines Kollegen eine genervte Geste.
Nicht nur diese Szene zeigt: Es fehlt eine Hierarchie, die gedachten Führungsspieler wie Toni Kroos oder Mats Hummels können sich innerhalb der Mannschaft längst nicht das Gehör verschaffen wie ihre Vorgänger Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder Per Mertesacker. Auch die Rolle eines Bindeglieds wie der oft als "Maskottchen" verspottete Lukas Podolski ist unbesetzt.
"Da stimmt etwas nicht in der Mannschaft", erkannte Ballack nach dem verpatzten WM-Auftakt. Wie sollte es auch – alleine in den fünf Länderspielen dieses Jahres (nur ein Sieg beim 2:1 gegen Saudi-Arabien) schickte Joachim Löw fünf unterschiedliche Startformationen auf den Platz. Einspielen kann sich eine Mannschaft so natürlich nicht.
Die Erdogan-Debatte:
Der noch immer nicht verstummte Aufschrei nach den Wahlkampf-Fotos der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist der Dauerbrenner unter den momentanen Stimmungskillern. Gündogan bemühte sich mit Erklärungsversuchen, durfte nach Pfiffen während der WM-Generalprobe gegen Mexiko aber nicht noch einmal ran.
Özil in Deutschland unbeliebter als Ronaldo
Löws Lieblingsschüler Özil schweigt sich derweil aus, bleibt aber gesetzt. Der Aufforderung des DFB-Präsidenten Reinhard Grindel, die Antworten zumindest auf den Platz zu verlagern, kam der Arsenal-Profi vorerst nicht nach. Die Debatte sei "belastend" für das Team gewesen, räumte Torhüter Manuel Neuer freimütig ein. Und das Thema scheint weiter zu rumoren.
Das Krisenmanagement:
"Das Thema ist unterschätzt worden", sagte DFL-Präsident Reinhard Rauball zum "Erdo-Gate". Auch DFB-Manager Oliver Bierhoff gab keine gute Figur ab, als er Fragen zur Debatte um Özil, Gündogan und Erdogan vor laufender Kamera ungewohnt dünnhäutig abbügelte. Ob der Deutsche Fußball-Bund in sportlicher Hinsicht ein besseres Krisenmanagement zustande bekommt, scheint fraglich.
Schließlich sind die Probleme im Spiel der deutschen Mannschaft nicht erst seit der Mexiko-Pleite bekannt. "Ich verstehe nicht so ganz, warum wir so gespielt haben, obwohl wir gegen Saudi-Arabien schon einen Schuss vor den Bug bekommen haben", ätzte Mats Hummels. "Wir haben es uns anders vorgestellt. Wir waren schon gewarnt", gestand auch Bierhoff, der sich ansonsten in Sarkasmus übte. "Wir wollten ein Zeichen setzen", sagte der Teammanager. Und deshalb sei "auch die Niederlage schon ein Zeichen".
Doch warum sollte sich jetzt auf einmal ein Lerneffekt einstellen? Joachim Löw hat bereits angekündigt, nicht in Panik verfallen und allzu viel ändern zu wollen. Der erfahrene Turniercoach muss sich in einer "für uns absolut ungewohnten Situation" bewähren. "Es gibt Widerstände in einem Turnier, das weiß man. Die muss man annehmen."
Sein Krisenmanagement eröffnete der 58-Jährige noch vor der Weltpresse, als er angesprochen auf die zuletzt in der Vorrunde ausgeschiedenen Weltmeister Frankreich (2002), Italien (2010) und Spanien (2014) mit Trotz reagierte: "Uns wird es nicht passieren! Wir werden es schaffen!“
Nun denn. Immerhin glaubt Julian Draxler noch den Ehrgeiz des Bundestrainers. Löw werde der Mannschaft das Thema defensives Umschaltspiel "knallhart servieren", meinte Draxler nach dem Desaster im ersten Gruppenspiel.
Und Optimismus kommt auch von Philipp Lahm, der den Umgang mit der Niederlage im Luschniki-Stadion als positiv bewertete. "Man hat ja gestern schon gehört, dass sie selbstkritisch sind", sagte der 34-Jährige am Montag. "Die Mannschaft ist erfahren, das Trainerteam ist sehr erfahren, die wissen, wie sie mit der Niederlage umgehen müssen."
Die Aussagen traf Lahm wohlgemerkt vor Schulkindern in Watutinki. Journalistenfragen waren nicht zugelassen, nachdem eine ursprünglich für Montagmittag im DFB-Quartier angesetzte Pressekonferenz mit dem EM-Botschafter für 2024 wegen der Pleite gegen Mexiko abgesagt worden war. Auch das gehört zum Krisenmanagement des DFB.
Die Psychologie:
Die schlechte deutsche Leistung zum WM-Auftakt ist möglicherweise zum Teil auch mit der hohen psychischen Belastung zu erklären. "Der Druck, als Weltmeister das Ziel Titelverteidigung anzugehen, scheint einige Spieler zu hemmen", sagt Mentalcoach Matthias Herzog. "Die hohe Fehleranzahl und fehlenden klaren Chancen sprechen dafür, dass dem deutschen Team aktuell das Selbstvertrauen und die Nervenstärke fehlen."
Dabei sei gerade diese mentale Komponente bei der Mission Titelverteidigung besonders wichtig, so Herzog: "Jeder Gegner will den Weltmeister schlagen – vor allem bei einer WM." Diesen bedingungslosen Einsatz und Willen hat der Mentalcoach nicht bei allen deutschen Spielern gesehen. Stattdessen herrsche bei den Spielern, die bereits 2014 Weltmeister geworden waren, "schnell eine gewisse Gleichgültigkeit, wenn es nicht so läuft, da im Hinterkopf immer der Gedanke ist: 'Ich bin ja schon Weltmeister. Den Titel kann mir keiner nehmen.'"
Daher nahm Herzog Bundestrainer Joachim Löw in die Pflicht, "nicht stur an etwas festzuhalten, das nicht funktioniert". Vielmehr, so der Mentalcoach, sollte Löw den neuen Akteuren mehr Spielanteile geben: "Sie sind heiß auf die WM." Oder, wie Ex-Nationalspieler Hansi Müller ees formuliert: "Jetzt ist die Birne gefragt, und das Geschick von Jogi Löw."
Der Spielplan:
Selbst wenn sich das Team noch zu zwei Siegen gegen Schweden und Südkorea aufraffen sollte, dürfte der aktuellen Verfassung nach zu urteilen bereits im Achtelfinale Endstation sein. Denn als mutmaßlich Gruppenzweiter würde im ersten K.-o.-Spiel aller Voraussicht nach Brasilien warten. Und die haben schließlich nicht nur nach der 1:7-Schmach im Halbfinale der Heim-WM vor vier Jahren etwas gut zu machen, sondern der DFB-Elf schon beim 1:0-Sieg im letzten Aufeinandertreffen klar deren derzeitigen Grenzen aufgezeigt.
Ob es für Deutschland überhaupt zu einem Erfolg gegen Schweden reichen wird, darf indes mehr als bezweifelt werden. Schon Italien scheiterte in den Play-offs an den hartnäckigen Skandinavieren, die in beiden Spielen keinen einzigen Gegentreffer zuließen. "Wir haben Lösungen", hatte Joachim Löw vor dem Spiel gegen Mexiko gesagt. Ein Trugschluss, wie sich herausstellen sollte. Das Vertrauen in Lösungen für das schwedische Abwehrbollwerk wird dieser Umstand nicht gerade steigern.
Der Ausverkauf:
"Best neVer rest": Der vielfach gescholtene Slogan des größten DFB-Sponsors wird von eben diesem bis zum Erbrechen penetriert. Und von den Spielern fleißig weiterverwendet. Der Claim, von dem Verein Deutsche Sprache (VDS) bereits auf die Auswahlliste für den "Sprachpanscher des Jahres" gesetzt, ist nur ein Ausdruck für den Ausverkauf der deutschen Fußballseele, der auch bei den Protagonisten selbst zunehmend den Blick aufs Wesentliche, nämlich das Spiel auf dem Platz, zu verstellen scheint.
Unverhohlene Produktwerbung über die eigenen Social-Media-Kanälen, eingebettet in vermeintlichen WM-Posts, treiben die Selbstvermarktung auf die Spitze. Mats Hummels' neuer Anzug ist wichtig, Jerome Boatengs graue Haare ebenfalls, das lustige Selfie von Julian Brandt sowieso – mit derlei (selbst verschuldeten) Ablenkungen wird es schwierig mit der Titelverteidigung.
Das Umfeld:
Bis kurz vor der WM war in Deutschland so gut wie keine Vorfreude auf die Endrunde auszumachen. Pfiffe gegen Özil und Gündogan taten ihr Übriges. Das Fanfest in Hamburg meldete zum Spiel gegen Mexiko einen Minusrekord. Im Moskauer Luschniki-Stadion selbst wurden die zarten deutschen Anfeuerungsversuche von dem mexikanischen Getöse pulverisiert.
Die für den Fanclub Nationalmannschaft gesponserten Fähnchen waren nett gemeint, doch die Pleite zum Auftakt dürfte die Stimmung im Weltmeisterland kaum positiv beeinflussen. Ohne den seit dem "Sommermärchen" 2006 regelmäßig besungenen zwölften Mann wird es auch für die Mannschaft schwer, aus sich selbst heraus ein neues Feuer zu entfachen.
Die Experten:
Auch die Ehemaligen sprechen inzwischen ungehemmt das aus, was einem Großteil der Fans längst unter den Nägeln brennt. Die Liste der Kritiker ist lang und reicht von den früheren Weltmeistern Paul Breitner und Lothar Matthäus bis zu Michael Ballack. Der "Capitano" von 2006 ging mit seinen Nachfolgern hart ins Gericht. "Kein Teamgeist, kein Hunger, nicht genug Hingabe. Löw ist gefordert", schrieb Ballack.
"Das 0:1 war noch gnädig. Ich habe die deutsche Mannschaft bei einem großen Turnier lange nicht mehr so schwach gesehen. Mir hat in dieser Partie fast alles gefehlt", schrieb Rekordnationalspieler Matthäus. Ex-Weltmeister Guido Buchwald sah eine "vogelwilde" Abwehr und bemängelte "Defizite in der Raumaufteilung im Mittelfeld".
Am deutlichsten wurde Paul Breitner, der 1974er-Weltmeister vermisst die Führungsspieler. "Was mich am allermeisten gestört hat und ich nicht verstehe: Wir haben keinen Problemlöser! Kein Spieler ist in der Lage, ein Problem zu lösen, wenn es schwierig wird", sagte der 66-Jährige: "Es plätschert alles vor sich hin, jeder wartet auf irgendeine Idee des anderen und jeder weiß, dass sie nicht kommt. Es war deprimierend zu sehen, wie hilflos unsere Mannschaft war."
Auch in der Offensive sieht Breitner einige Baustellen. "Unser Problem ist auch, dass wir im Moment keinen Stürmer haben, der im Strafraum eine Szene verwerten kann", sagte er und sprach Leipzigs Timo Werner an: "Nichts gegen Werners Spiel, aber mit einer falschen Neun wirst du nicht Weltmeister. Die Art und Weise, wie unsere Mannschaft gespielt hat – desaströs zum Teil –, ist für mich schon ein Alarmzeichen."
"Wenn wir keine andere Mannschaft sehen, dann habe ich große Bedenken, dass wir die nächste Runde erreichen", sagte der 59-malige Nationalspieler Dietmar Hamann. Auch der frühere Leverkusen-Manager Rainer Calmund hält ein Aus in der Gruppenphase nicht für ausgeschlossen. "Das war eines der schwächsten Spiele, das ich von unserer Nationalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft je gesehen habe. Da muss jetzt der Wecker klingeln." Bedingungsloser Rückhalt sieht anders aus.