Watutinki/Hamburg. Nur noch K.-o.-Spiele: Das 0:1 gegen Mexiko setzt Joachim Löw unter Druck. Warum die Deutschen gelassen bleiben können.

Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen: Thomas Müller (Bayern München) sagte nach der historischen 0:1-Niederlage der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Mexiko zum Auftakt der WM 2018 in Russland: „Jetzt haben wir quasi nur noch K.o.-Spiele.“ Stimmt. Die Frage ist: Wie viele? Seit 36 Jahren (1:2 gegen Algerien) hat die deutsche Elf kein Auftaktmatch bei einer WM verloren. Stehen jetzt gegen Schweden (Sonnabend, 20 Uhr, live ARD) und Südkorea (Mittwoch 16 Uhr, live ZDF) die letzten verbliebenen WM-Spiele des Weltmeisters an? Oder sind es noch sechs K-.o.-Spiele bis zum Finale in Moskau?

Der Endspielcharakter scheint deutschen Mannschaften mehr zu liegen als das Herumlavieren in den Gruppenspielen. Das ist historisch belegt. Doch was nutzt all die Historie wie die Statistik von den gewonnenen Auftaktspielen bei den späteren Finalsiegen wie 1954, 1974, 1990 und 2014? Genau.

Deshalb haben wir hier einmal zehn Gründe gesammelt, die nicht alle in der ruhmreichen deutschen Fußball-Geschichte verwurzelt sind, um zu zeigen: So kann Joachim Löw als erster Bundestrainer überhaupt doch noch den WM-Titel verteidigen.

Vorbild Real Madrid

Diese deutsche Mannschaft kann dreckig spielen, wenn sie nur will. „Watt woll’n Se?“, blaffte Per Mertesacker den ZDF-Reporter  Boris Büchler 2014 nach einem schlimmen, schmeichelhaften Sieg gegen Algerien an. Womit? Mit Recht! Gewinnen zählt, nicht das Wie.

Per Mertesacker (l.) und Mats Hummels wurden 2014 mit Deutschland Weltmeister
Per Mertesacker (l.) und Mats Hummels wurden 2014 mit Deutschland Weltmeister © dpa | Andreas Gebert

Hummels, Boateng, Kroos (gerade der!), Kimmich, Müller – sie können kratzen, beißen und Schlimmeres. Jeder hat das große Vorbild Real Madrid gesehen: Nicht bedingungslos brillant spielen wollen, sondern clever. So gewinnt man Titel. Real galt auch als Mannschaft, die den Zenit überschritten hat. Und manchmal muss eben ein Gegenspieler auch mal ins Gras. Per Mertesacker wird das unterschreiben.

Warum Marco Reus ein Schlüsselspieler ist

Joachim Löw und Marco Reus
Joachim Löw und Marco Reus © dpa | Ina Fassbender

Hat jeder gesehen: Marco Reus sprudelt vor Spiellust. Bleibt er fit, ist er nicht aufzuhalten. Seine „Torannäherungen“ werden auch in Treffern münden. Er hat Borussia Dortmund nach der Tuchel/Bosz-Depression und dem fürchterlichen Anschlag auf den Mannschaftsbus spielerisch wieder wachgeküsst. Der Rest kam von alleine. Und mit ihm haben andere entscheidende Spieler schon immer gut harmoniert: Özil, Gündogan, Hummels.

Manuel Neuer – Last man standing

Der Kapitän ist wieder voll da: Manuel Neuer ist anders als andere Top-Profis, die gerade 50 und mehr Pflichtspiele in den Knochen haben, mit aufsteigender Formkurve unterwegs.

Hält der Mittelfuß, hält auch seine psychische Stärke die Mannschaft oben. Neuer bleibt immer lange stehen. Das sollte symbolisch für den Rest gelten. Mit ihm zwischen oder weit vor den Pfosten kann die Mannschaft risikoreicher spielen, wenn sie muss.

Die Mannschaft – das war gestern

Diese Spieler sind eine Bank: Jetzt schlägt die Stunde der Ersatzleute. Ob Ilkay Gündogan, Leon Goretzka oder Niklas Süle: Sie werden den vermeintlichen Stammspielern Druck machen. Konkurrenz belebt die Sinne und die Spielkultur. Nach diesem Grotten-Kick hat Löw jedes Argument, seine vermeintlichen Lieblinge (Khedira) in die Reserve zu beordern.

Joachim Löw
Joachim Löw © picture alliance/dpa/Christian Charisius | picture alliance/dpa

Die Bräsigkeit der „Wir sind die Mannschaft“-Attitüde ist überwunden. Jetzt geht ein neuer Ruck durch den Kader. Nicht anders war es 2006, als Jens Lehmann Oliver Kahn ersetzte und Alpha-Rüde Michael Ballack im Auftaktspiel mit leichter Verletzung nicht randurfte, obwohl er das eingefordert hatte. Der Stern von Philipp Lahm ging damals auf. Ballack kam dazu, Trainer Jürgen Klinsmann nannte ihn „Capitano“ – und ein Sommermärchen ward geboren.

Bei Standards geht was

Diese WM hat bislang gezeigt, dass viele Standards zu Toren oder gefährlichen Situationen für den Gegner führen, ob nun Freistöße oder Ecken.

Cristiano Ronaldo zum Dritten: In der 88. Minute besorgte der Weltfußballer den Endstand
Cristiano Ronaldo nach seinem Freistoßtor zum 3:3 gegen Spanien © dpa | Unbekannt

Heißt: Vom ruhenden Ball geht mehr Gefahr aus, als man denkt. Bei Standardsituationen wird es auf Kroos, Özil, Gündogan, aber auch den meist als Freistoßschützen unterschätzten Marco Reus ankommen. Hier geht was. Und kommen die Offensivkräfte wie Müller und Werner erst einmal in Fahrt, sind sie oft nur durch Foulspiel zu stoppen.

Alle Favoriten straucheln

Die anderen Favoriten sind auch nicht besser in Russland gestartet: Brasilien verbaselt einen ansprechenden Auftritt von Neymar und Co. und kann die Führung nicht über die Zeit bringen. Trotz technischer Überlegenheit und spielerische Klasse reicht es nur zu einem 1:1 gegen die Schweiz. Argentinien schwächelt, selbst Lionel Messi trifft nicht vom Punkt – Elfmeter verschossen gegen Island (1:1).

Schlapp: Lionel Messi
Schlapp: Lionel Messi © Unbekannt | Getty Images

Frankreich stolpert mehr als gedacht beim 2:1 über Australien, die Spanier verschenken den Sieg über Portugal (3:3). Geht man davon aus, dass die Großen ihre Lehren ziehen werden, hat Deutschland die besten Chancen. Nur wer als Favorit einmal richtig am Boden war, kann demütig, aber siegreich durch solch ein Turnier ziehen.

Physis schlägt Klasse

War die deutsche Mannschaft nicht fit? Möglich, dass die Trainingswissenschaftler im „Funktionsteam“ des DFB da was falsch berechnet haben. Kaum ein deutscher Spieler wirkte sprint-spritzig. „Auf den Punkt“ vorbereitet, wie versprochen, das sah am Sonntag nicht so aus. War das Trainingslager zu lang? Zu hart? Zu weich? Die Mexiko-Analyse wird auch am Reißbrett Ergebnisse bringen, die nicht schmeichelhaft sein werden.

Muss sich am Training was ändern?
Muss sich am Training was ändern? © dpa | Ina Fassbender

Das magische Viereck von Belastung, Regeneration, Spannungsaufbau und Höchstleistung kann kaum eine Mannschaft über Wochen so gut aufrechterhalten wie die von Joachim Löw. Gut, vielleicht war am Anfang die Leistungskurve aus dem Eppaner Übungszentrum nicht richtig nach Moskau hinübergerettet. Jetzt werden die Sportwissenschaftler, Mediziner, Datenanalysten grübeln und die richtigen Hinweise geben. Ob übersäuert oder unterzuckert – das passiert nicht wieder. Und ein Turnier wird über die körperliche Leistungsfähigkeit entschieden. Physis schlägt Klasse. Wird man spätestens in den Spielminuten 80 bis 90 sehen.

Einfach keinen Kopf machen …

Wenn zwei Mannschaften leistungsmäßig fast auf Augenhöhe sind, wird ein Spiel oft über die Psyche entschieden. Löw hat bewiesen, dass er die größten Seelchen und Sensibelchen motivieren kann (Zu Mario Götze: „Zeig‘, dass du besser bist als Messi!“). Sollte also jemand bei Lektüre der Pressestimmen oder des Spotts auf Twitter im Innersten verunsichert sein, erfährt er Rückhalt von höchster Stelle.

Und was ist mit denen, die herumlaufen, als seien sie das Selbstbewusstsein auf zwei Beinen? Gerade die wackelnden Boateng und Hummels haben in Krisen stabile Nerven bewiesen, selbst der junge Kimmich scheint sich „keinen Kopf zu machen“. Immerhin haben diese drei es als Abwehrbollwerk des FC Bayern durch die Champions League bis ins Halbfinale gebracht und dort nur unglücklich verloren. Und bei Boateng zeigt die Formkurve nach oben, was ihm zusätzlich psychische Stärke verleihen sollte.

Blockbildung mit dem FC Bayern

Blödes Thema, aber jetzt wichtig: Früher dominierten Spieler des FC Bayern München oder von Borussia Dortmund die Nationalmannschaft, einst auch die von Borussia Mönchengladbach. Blockbildung schien zuletzt out. Nun gibt es einen so erdrückenden Bayern-Block, dass es leichter ist, taktisch zu variieren.

Zusammen ist man weniger allein? Die Weltmeister Mats Hummels (v.l.), Jerome Boateng und Toni Kroos gegen Mexiko
Bald schon wieder obenauf? Mats Hummels (v.l.), Jerome Boateng und Toni Kroos © Getty Images | Unbekannt

Die Bayernspieler sind es gewohnt, auch mal im Training einstudierte Varianten „live“ auszuprobieren, wenn die Standard-Taktik versagt. Neuer, Boateng, Hummels, Kimmich, Süle, Müller, Rudy, dazu der bei Bayern ausgebildete Kroos, Gomez als Ex-Bayer und Gündogan als bei Ex-Bayerntrainer Pep Guardiola „weitergebildeter“ Manchester-Profi – das ist fast eine ganze Mannschaft, die neue Strategien und Taktiken schon miteinander erprobt hat. Wenn die Automatismen stimmen, kommt die Kreativität von ganz alleine.

Diese Aufbaugegner kommen zur rechten Zeit

Schweden und Südkorea sind die richtigen Aufbaugegner für einen angeknacksten Weltmeister. Wie bei Löws Mannschaft der WM-Titel von 2014 spukt bei den Schweden der ehemalige Superstar Zlatan Ibrahimovic durch die Köpfe. Neben dem Platz haben also auch die Schweden so ihre Themen.

Ex-HSV-Profi Heung-Min Son
Ex-HSV-Profi Heung-Min Son © REUTERS | KIM HONG-JI

Gut für die Mannschaft von Janne Andersson ist deren großes Selbstbewusstsein, vor allem nach der Last-Minute-Qualifikation gegen Italien. Und dieses Selbstbewusstsein ist gleichzeitig schlecht für das Team. Denn es verleitet zu einer Sorglosigkeit gegen eine deutsche Mannschaft, die am Sonnabend eine andere sein wird. Spielerisch leben die Schweden allzu sehr von ihren Individualisten. Und Südkorea hat mit dem Ex-HSVer Heung-Min Son sowieso den größten Deutschlandfan in seinen Reihen. Gerade nach dem Mexiko-Spiel sollte man sich hierzulande vor Hochmut hüten. Aber die Südkoreaner besitzen nicht das Abwehrfeuer und die Konterstärke wie die Mexikaner.