Hamburg. Veronika Rücker, neue Geschäftsführerin im Tennis-Bund über Ansehen des Leistungssports, Frauen in der Führung und die Energiekrise.
Rund 1,4 Millionen Mitglieder machen den Deutschen Tennis-Bund (DTB) zum weltgrößten Fachverband des Tennissports. Knapp eine halbe Million von ihnen betreibt organisierte Wettkämpfe – und Veronika Rücker ist nicht nur seit 1. Juli hauptberuflich für diese Gruppe zuständig, sondern auch immer noch ein Teil von ihr. Die 52-Jährige, die in der Nachfolge von Klaus Eberhard neue Geschäftsführerin Sport beim DTB ist, spielt in ihrer Heimatstadt Köln für eine Ü-40-Damenmannschaft und gibt als A-Lizenz-Inhaberin auch noch gelegentlich Training. Man nimmt ihr also ab, dass der neue Job Herzensangelegenheit ist. Am Rande des Daviscups am Rothenbaum gab sie dem Abendblatt ihr erstes Interview in der neuen Funktion.
Hamburger Abendblatt: Frau Rücker, Sie waren bis Ende vergangenen Jahres Vorstandsvorsitzende im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Täuscht der Eindruck, dass Sie froh sind, diese Zeit hinter sich gelassen zu haben?
Veronika Rücker: Zumindest stimmt der Eindruck, dass ich sehr glücklich bin über die neue Aufgabe. Tennis ist nicht nur mein Lieblingssport, sondern ein roter Faden in meinem Leben. Deshalb habe ich diese spannende, reizvolle Aufgabe übernommen und werde diese mit viel Erfahrung und einer großen Portion Leidenschaft ausfüllen. Ich denke, die Aufgabe und ich, wir passen gut zueinander.
Lassen Sie uns dennoch kurz zurückschauen auf die herausfordernde Zeit im DOSB. Was ist geblieben von den Jahren seit 2018?
Ich verhehle nicht, dass vor allem das letzte halbe Jahr dort sehr belastend war. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir 2018 und 2019 viele positive Veränderungen angestoßen und den DOSB in eine gute Richtung entwickelt haben. Dann kam 2020 Corona, eine Krise mit vielfältigen Auswirkungen, die wir bis heute nicht absehen können. Dazu erhielt ich im Mai 2020 die Diagnose Brustkrebs. Zu meinem Glück kann ich sagen, dass es gelungen ist, dieses Thema quasi nebenbei zu bewältigen. Die Arbeit hat mir dabei geholfen, mich gut abzulenken und den Krebs erfolgreich zu besiegen.
Und dann kam Mitte 2021 das anonyme Schreiben, in dem eine Kultur der Angst in der DOSB-Zentrale angeprangert wurde.
Mir ist wichtig, noch einmal zu betonen, dass diese Vorwürfe für mich und die gesamte damalige Führung aus heiterem Himmel kamen. Das Krisenszenario, das darauf folgte, wünsche ich wirklich niemandem. Aber auch daraus habe ich viele wichtige Erfahrungen mitgenommen.
Zum Beispiel? Worin unterscheiden sich ein großer Dachverband wie der DOSB und ein großer Fachverband wie der DTB vor allem?
Der DOSB ist eine sportpolitische Interessenvertretung für 100 sehr unterschiedliche Mitgliedsorganisationen, er muss sich weitaus mehr politisch positionieren. Der DTB als Fachverband ist viel näher am Sport, er hat deutlich mehr Praxisbezug. Deshalb sind die beiden Tätigkeiten nicht wirklich miteinander zu vergleichen.
Sie sind als Geschäftsführerin Sport viel näher am Sport und den Aktiven als im Vorstand des DOSB. Warum, denken Sie, liegt Ihnen diese Tätigkeit?
Weil ich hier die Chance habe, viel intensiver zu gestalten. Mein Treiber war nie, in der Öffentlichkeit zu stehen und Forderungen aufzustellen, sondern die Chance zu haben, für den Sport, den ich liebe, aber vor allem für die Athletinnen und Athleten das Optimum herauszuholen.
Ihr Vertrag beim DTB ist unbefristet. Haben Sie dennoch eine Agenda aufgestellt und sich eine Frist gesetzt, bis zu der Sie Ziele erreichen wollen? Und welche Ziele sind das?
Ich habe mir bewusst 100 Tage gegeben, um die Gesamtsituation im DTB intensiv zu analysieren. In der kommenden Woche wird es dazu eine Sitzung in Hamburg geben, zu der das gesamte leistungssportliche Personal des DTB zusammenkommt, um zu aktuellen Themen zu diskutieren und gemeinsam eine selbstkritische Bestandsaufnahme durchzuführen. Im Anschluss daran werde ich mit meinem Team die Strategie für die kommenden Jahre entwickeln und auch die Ziele definieren. An deren Erreichung werde ich mich dann gerne messen lassen.
Rücker will Talentförderung beim DTB vorantreiben
Dann lassen Sie uns ein paar Schwerpunkte skizzieren. Stichwort Leistungssportkrise: Bei den US Open in New York schaffte es nur Jule Niemeier in die zweite Runde. Wie wird das deutsche Tennis wieder stark?
Auch wenn die Verletzungen von Alexander Zverev und Oscar Otte in die Analyse einbezogen werden müssen, ist Ihre Frage absolut berechtigt. Die Antwort darauf ist, dass wir die Talentförderung weiter optimieren müssen. Wir müssen alles tun, um die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit insbesondere im kritischen Alter beim Übergang vom Junioren- in den Erwachsenenbereich niemand auf der Strecke bleibt. Außerdem müssen wir die Talentsichtung intensivieren.
Themen, die die Bundestrainer seit Jahren bearbeiten – und beklagen, dass die heutige Generation zu schnell zufrieden ist. Teilen Sie den Eindruck, dass es der deutschen Jugend zu gut geht, um sich für eine ungewisse Karriere im Leistungssport zu quälen?
So pauschal kann man das nicht sagen. Ein entscheidender Punkt ist schon auch die Frage, ob die duale Karriere, auf die wir in Deutschland setzen, nicht Fluch und Segen zugleich ist. Auf der einen Seite ist es toll, dass Leistungssporttreibende die Chance haben, sich neben ihrer Karriere ein Standbein für die Zeit nach dem Sport aufbauen zu können. Andererseits sehen wir, dass es mit diesem System immer schwieriger wird, mit all den Nationen mitzuhalten, in denen schon im Jugendbereich alles auf die Karte Profisport gesetzt und entsprechend trainiert wird.
Daher suchen wir aktuell mit Hochdruck gute Wege, um Ausbildung und Leistungssport noch besser miteinander verbinden zu können, zum Beispiel durch digitale Schulangebote. Ein gutes Beispiel ist auch das US-Collegesystem, das einen perfekten Übergang vom Junioren- in den Erwachsenenbereich bietet. So etwas haben wir in Deutschland leider nicht, sollten uns aber überlegen, ob wir nicht aufhören müssen, das als Konkurrenz wahrzunehmen, und stattdessen viel mehr die Kooperation zu suchen.
Ein Grund dafür, dass das duale System in Deutschland notwendig ist, ist der Fakt, dass viele olympische Athletinnen und Athleten von ihrem Sport nicht leben können. Das ist im Tennis abseits der Top 200 der Welt nicht anders. Wie ist dem abzuhelfen?
Da sind wir bei einem Thema, das mir extrem wichtig ist, und zwar die Grundsatzfragen, welchen Stellenwert der Leistungssport in unserer Gesellschaft hat und welchen Leistungssport wir in Deutschland haben wollen.
Wie wäre da Ihre Meinung?
Meine Überzeugung ist, dass die Gesellschaft den Wert von Sport noch nicht hinreichend erkennt, das Potenzial wird weder in der Breite noch in der Spitze wertgeschätzt. Was eine Sozialisation im Verein oder einer Mannschaft an Werten auch für unsere Gesellschaft mit sich bringt, wird komplett unterschätzt. Es braucht aber auch eine ehrliche Diskussion darüber, welches Höchstmaß an Hingabe und Disziplin der heutige Leistungssport erfordert. Nur mit Spaß und Freude erreicht man spitzensportliche Ziele nicht, da ist eben auch ein hohes Maß an Disziplin und Leidensfähigkeit vonnöten.
Rücker will an der Sichtbarkeit des Tennis-Sports arbeiten
Ein weiteres Thema sind Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Bei den European Championships in München wurde deutlich, wie sehr der Sport abseits des Fußballs profitiert, wenn er medial optimal präsentiert und von einer breiten Masse begleitet wird. Da muss es Sie ärgern, dass die Erfolge von Jule Niemeier in Wimbledon nur bei Sky und in New York spät in der Nacht bei Eurosport zu sehen waren. Wie verbessern Sie die Wahrnehmung von Tennis?
Das ist in der Tat ein weiteres Ziel, das wir im Verband verfolgen wollen. Ich bin zwar überzeugt, dass mehr Menschen jetzt wissen, wer Jule Niemeier ist. Aber die Sichtbarkeit unserer Topspielerinnen und Topspieler zu erhöhen ist unerlässlich. Wir arbeiten daran, über unsere eigenen Kanäle, aber auch in Kooperationen Tennis-Deutschland in seiner Gesamtheit stärker und besser zu präsentieren.
Ein wichtiger Baustein dafür sind die Turniere in Deutschland. Wie sehen Sie den DTB dahingehend aufgestellt?
Auf Profiebene sind wir ganz gut ausgestattet, sowohl bei Damen als auch bei Herren. In der Jugend haben wir die Turniere in den vergangenen Jahren massiv ausgeweitet. Auf dem Level der Challengerturniere, also dort, wo der Übergang vom Junioren- in den Erwachsenenbereich passiert, würden wir gern die deutsche Turnierlandschaft weiter ausbauen.
Um den Rothenbaum, wo in diesem Jahr erstmals seit 1978 wieder ein kombiniertes Damen- und Herrenturnier gespielt wurde, gibt es viele Diskussionen. Halten Sie ein Mastersturnier in Hamburg für vorstellbar?
Wenn es die Chance gibt, ein Turnier der 1000er-Serie nach Deutschland zu holen, sollten wir alles tun, um sie zu ergreifen. Mit welchem Standort das passiert, können wir erst beurteilen, wenn die Herrentennisorganisation ATP eine entsprechende Ausschreibung veröffentlicht. Das ist noch nicht geschehen.
Es gibt Gerüchte, dass sich DTB-Präsident Dietloff von Arnim bereits mit Düsseldorf beworben hat.
Solange es keine Ausschreibung gibt, können wir uns nicht offiziell bewerben.
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Wir müssen auch die Krisen ansprechen, die den gesamten Sport hart zu treffen drohen. Corona ist längst nicht vorbei, da drohen die durch die Decke schießenden Energiekosten die Vereine zu erdrücken. Was fürchten Sie im Tennis an Konsequenzen?
Das ist noch nicht ganz abzusehen. Die Tennisvereine sind gut durch die Corona-Zeit gekommen. Wir haben unsere Mitgliederzahl im vergangenen Jahr um rund vier Prozent steigern können. Tennis liegt im Trend, diesen Trend gilt es nun zu verstetigen. Die Energiekrise wird die Tennisvereine allerdings stark treffen, denn den meisten Vereinen gehören ihre Anlagen selbst, sie sind also auch für die Unterhaltung und Instandsetzung verantwortlich. Wir haben deshalb einen Appell gestartet mit zwei Kernpunkten: Energieverbrauch wo immer möglich reduzieren und Anlagen zukunftsfähig umrüsten. Aber auch das sind ganz erhebliche Kostenfaktoren für die Vereine, die nicht leicht zu schultern sind. Aus heutiger Sicht besteht die Gefahr, dass die aktuelle Krise für viele Vereine deutlich schwieriger zu meistern sein wird als die Pandemie.
Eine Frage ist angesichts der Tatsache, dass es im deutschen Sport kaum weibliches Führungspersonal gibt, unumgänglich: Sehen Sie sich als Vorbild für andere Frauen? Und wie ändert sich der Führungsstil, wenn eine Frau führt?
Sie haben recht: Es gibt immer noch zu wenige Frauen in Führungspositionen, auch im deutschen Sport und gerade auch in den Positionen der Sportdirektoren. Ich habe mich noch in keiner meiner Führungsaufgaben über mein Geschlecht definiert, ich will gestalten und meine Erfahrungen einbringen. Ich bin gern bereit, als Vorbild zu dienen, wenn das anderen Frauen hilft, aber ich mache die Aufgabe nicht deshalb. Was sich verändert, sollten Sie diejenigen fragen, mit denen ich zusammenarbeite. Ich bin optimistisch, dass wir uns gemeinsam auf einen guten und teamorientierten Weg begeben.