Hamburg. Der Torhüter des FC St. Pauli spricht vor dem Gastspiel Deutschlands in Bosnien über sein Heimatland, den Krieg und Sergej Barbarez.
Das Mittagessen reißt Nikola Vasilj aus seinen Träumen. „Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet. Dass es nun Realität geworden ist, erfüllt mich mit unheimlichem Stolz“, hat die neue Nummer eins der bosnischen Nationalmannschaft eben noch im Telefongespräch mit dem Abendblatt gesagt, da läutet die Glocke zur Speisung. „Sorry, ich muss los“, sagt der 28-Jährige. Keine Ursache. Schließlich soll Vasilj an diesem Freitag (20.45 Uhr/RTL) gut gestärkt in die Nations-League-Partie gegen Deutschland gehen.
Dabei ist zweifelhaft, ob der Stammkeeper des FC St. Pauli überhaupt noch zusätzliche Power benötigt. Zwölftes Länderspiel; das erste in offizieller Spitzenfunktion; daheim in Zenica; dazu gegen das Land, in dem er spielt. Mehr geht erstmal nicht. Über Jahre hütete Ibrahim Šehić (36) in den wichtigen Partien das Tor der Bosnier. Nun wollte der neue Nationaltrainer Sergej Barbarez einen Neuanfang – mit Vasilj.
Nikola Vasilj: „Füge mich dem, was fürs bosnische Nationalteam gut ist“
„Sergej ist eine große Legende bei uns im Land, die Leute lieben ihn sehr. Er ist sehr ehrlich und hat keine Angst, seine Meinung zu äußern. Das respektieren alle“, sagt Vasilj über seinen Coach. Der habe die Beförderung wiederum nicht an den Aufstieg in die Bundesliga geknüpft. Bei manchen Landesverbänden ist es eine Art ungeschriebenes Gesetz, nur Erstligaspieler ins Aufgebot zu berufen. Nicht so in Bosnien. „Er hat mir frühzeitig gesagt, dass er auf mich zählt, schon vor dem Aufstieg“, sagt Vasilj.
Den hat die lange Wartezeit auf den Stammplatz im Kasten nie nervös gemacht. Der 1,93-Meter-Mann strahlt auch abseits des Platzes die sympathische Ruhe aus, die er seine Kollegen auf dem Feld vermittelt. Eine Neuer-ter-Stegen-Situation sei das mit Šehić nie gewesen. „Wir haben eine gute Beziehung, ich füge mich immer dem, was fürs Nationalteam am besten ist“, sagt Vasilj.
Deutschland hat mehr Fußballer als Bosnien Einwohner
Zusammenhalt im Team ist für ein so kleines Land eminent, um überhaupt Chancen auf Erfolg zu haben. „In Deutschland gibt es mehr Fußballer als bei uns Menschen“, bringt es Vasilj beispielhaft auf den Punkt. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) zählt 7,7 Millionen Mitglieder, Bosnien 3,2 Millionen Einwohner. Umso bemerkenswerter, dass die Balkan-Nation für diese Nations-League-Serie in die A-Division aufgestiegen ist.
Ob sich da nun ein positiver Trend abzeichnet, vermag Vasilj aber nicht zu beurteilen: „Ich hoffe es, aber wir hatten schon viele Höhen und Tiefen, zuletzt war es wieder etwas turbulenter. Wir brauchen Stabilität, dafür ist Sergej Barbarez der richtige Mann.“ Der ehemalige HSV-Stürmer verbringe viel Zeit damit, die Strukturen des Verbandes zu analysieren, die Ausbildung von Grund auf zu verbessern. „Es ist unglaublich, welchen Willen er hat“, schwärmt Vasilj, der jeden Sommer gemeinsam mit seiner Frau Sara in seinem Heimatland verbringt.
Der Balkanstaat hat die Jugoslawien-Kriege hinter sich gelassen
Die Lage dort habe sich nach den Jugoslawien-Kriegen von 1992 bis 1995 inzwischen weitgehend entspannt. Ganz grob teilt sich die Bevölkerung in einen kroatisch-stämmigen Teil, zu dem auch Vasilj zählt, sowie einen muslimischen. „Die Konflikte liegen in der Vergangenheit, jetzt ist eine neue Generation herangewachsen, die keine Unterscheidungen zwischen den Menschen macht. Wir leben wie auch im Rest von Europa“, sagt Vasilj.
Seine Heimatstadt Mostar, die im Krieg stark zerstört wurde, sei „wunderschön“ wieder aufgebaut worden. „Das ganze Land ist ein Traum. Vor allem die Natur bietet alles. Wälder, Berge, ein kleines Stück Meer, ich nehme an, bald wird Bosnien touristisch stärker erschlossen.“
Vasilj: „Deutschland hat so viel mehr Talent als wir“
Als Fußballtourist ist Vasilj aber gewiss nicht nach Zenica, gut 50 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Sarajevo, gereist. „Es ist unser erstes Heimspiel nach mehr als einem halben Jahr. Wir wollen den Leuten zeigen, dass wir mithalten können“, sagt er. An „den Leuten“ dürfte es jedenfalls nicht scheitern. Die Atmosphäre im nur gut 15.000 Zuschauer fassenden Bilino Polje wird feurig sein.
Dieses Feuer brauchen auch die Bosnier, um gegen den haushohen Favoriten zu bestehen. „Für uns geht es darum, die Grundlagen zu erfüllen. Also defensiv organisiert sein, aggressiv in die Zweikämpfe gehen, viel mehr laufen. Nur so klappt es, vom Talent her ist Deutschland so viel besser als wir“, sagt Vasilj.
Papa Vladimir Vasilj spielte für die kroatische Nationalmannschaft
Dass ausgerechnet Deutschland der Gegner in seinem ersten Spiel als Nummer eins ist, habe für ihn allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung: „Jedes Match für mein Land ist etwas Besonderes, jede Begegnung für uns wie ein Finale. Aber klar, dass es gegen die Deutschen geht, ist schon ein netter Zufall.“
Die schönere Geschichte für den Torhüter ist es stattdessen, seinen Vater Vladimir stolz zu machen – indem er ihn übertrumpft. Der heute 49-Jährige absolvierte selbst zwei Länderspiele als Torwart für Kroatien, allerdings „nur“ als Ersatzmann. „Ich weiß, wie viel ihm das bedeutet und wie glücklich ihn das macht. Er schaut sich jedes Spiel von mir an, wir stehen täglich in Kontakt“, sagt Vasilj Junior über den Papa, der als Torwarttrainer der kroatischen U-21-Nationalmannschaft arbeitet.
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Besondere Tipps wird er sich von ihm jedoch nicht abholen, sich ebenso wenig auf das Duell mit bestimmten deutschen Stürmern vorbereitet. „Ich mag es viel mehr, einfach nur bei mir zu bleiben und mich darauf zu konzentrieren.“ Das hat ihn weit gebracht und sollte Florian Wirtz und Co. klarmachen: Vasilj wird nicht nur dank des Mittagessen gut gestärkt gegen sie antreten und sich beim Wahr werden seines Traums gewiss nicht verfrühstücken lassen.