Robert Harting gewann Olympia-Gold – musste aber zittern und bangen. Kritik am Sportunterricht an Deutschlands Grundschulen.
London. Nach Jubel, Trubel, Heiterkeit folgte tief in der Nacht der Schreck. „Puuh, ich bin gerade ausgeraubt worden, während ich mit Leichtathletik-Fans beschäftigt war“, twitterte Robert Harting wenige Stunden nach seinem grandiosen Olympiasieg in London. „Ich habe meine Akkreditierung für das olympische Dorf verloren - kein Eintritt!“ Erst um kurz nach Acht am Mittwochmorgen hat er Zutritt zum olympischen Dorf erhalten.
„Ich hatte einen Reisepass dabei, aber es führte kein Weg hinein“, erklärte Harting später. Erst die von ihm alarmierte deutsche Teamleitung verschaffte dem ersten deutschen Leichtathletik- Olympiasieger seit Sydney 2000 wieder eine Zugangsberechtigung. Vorher hatte er „eine Stunde in der S-Bahn“ geschlafen. Der zweimalige Diskus-Weltmeister war nach seinem Triumph erst ins Deutsche Haus gefahren und hatte sich danach mit Freunden aus Berlin auf dem Kreuzfahrtschiff „MS Deutschland getroffen.
Als Harting gehen wollte, war die Akkreditierung weg. „Die Leute haben meinen Rucksack mit den anderen Sachen nicht mitgenommen“, erklärte der 27-jährige Berliner. In dem Rucksack befanden sich das nach dem größten Sieg seiner Karriere zerrissene Trikot und die Sportschuhe. Glück im Unglück: Die Goldmedaille hatte er noch nicht erhalten, da die Siegerehrung erst für Mittwochabend angesetzt war. Glück hatte auch der Dieb: Er hätte ihn in die Themse geworfen, wenn er ihn auf frischer Tat ertappt hätte : „Er hätte schwimmen können.“
Harting mangelte es nach dieser Nacht nicht nur an Schlaf. Der 2,01-Meter-Riese spürte auch eine große mentale Erschöpfung, nachdem der gigantische Erfolgsdruck von ihm gewichen war. „Ich bin jetzt extrem befreit und wie in einer Rauschblase“, sagte er. „Druck war nichts Neues für mich. Aber in der Form, in der Dimension, in der Intensität war es schon neu. Das hat auf den Schultern gesessen.“
Mit 28 Siegen in Serie, den ersten 70-Meter-Würfen seiner Laufbahn und dem Gewinn von Welt- und Europameisterschaft war er ins Olympia-Finale gegangen – und musste doch bangen und zittern in einem packenden Wetkampf. „Man fängt an zu denken“, sagte der Student der Gesellschaftskommunikation.
Extrem beeinträchtigt fühlte sich Harting in den ersten drei Versuchen, von denen der weiteste 67,79 war. Beim ersten Wurf wurde ein 800-Meter-Halbfinale gestartet. Beim zweiten war es so laut, dass „ich nicht denken konnte“, und vor dem dritten forderte ihn der Kampfrichter auf, ein zu nahe am Ring liegendes Handtuch wegzulegen. „Es sind drei Würfe im olympischen Finale, da sind die Hälfte der Würfe weg. Das ist keine Lapalie!“, schimpfte Harting.
Erst mit dem fünften und vorletzten Versuch auf 68,27 Meter gelang es ihm, den Iraner Ehsan Hadadi (68,18) und Peking-Olympiasieger Gerd Kanter (Estland/68,03) zu übertrumpfen. „Das wäre beinahe ein Schuss in den Ofen geworden“, bekannte der „Herr des Rings“. Als die Scheibe nach dem letzten Wurf der Konkurrenz landete, rannte der Goldmedaillengewinner wie ein Derwisch los und zeriss wieder einmal sein Trikot in Herkules-Pose.
„Ich habe es schon bei der WM in Berlin und Daegu gemacht. Diesmal hatte ich es ja angekündigt“, erklärte Harting. Er trat nicht nur mit nacktem Oberkörper und Deutschland-Fahne zur Ehrenrunde an, sondern lieferte noch weitere Showeinlagen. Auf der Zielgeraden sprang er über die aufgebauten Hürden und eilte noch zum olympischen Feuer, um den stählernen Aufbau zu berühren. „Die Kampfrichter wollten es mir verbieten. Sie haben mich provoziert, deshalb habe ich es gemacht.“
Sein Olympiasieg ist der erste für die deutsche Leichtathletik seit 2000 und der erste für einen Diskuswerfer seit Lars Riedel 1996. 10,3 Millionen Zuschauer freuten sich am Fernseher bei der ZDF-Übertragung mit ihm und sorgten für die beste deutsche TV-Quote bei den Spielen.
„Ich bin überglücklich, dass es geklappt hat“, sagte Harting nach seinem dritten großen Titel in 365 Tagen. „Der Klitschko hat drei oder vier goldene Gürtel. Bei mir sind es gerade drei Goldmedaillen der höchsten Form, wie man sie in der Leichtathletik gewinnen kann.“
Gehandicapt durch chronische Schmerzen im Knie, niedergeschlagen durch die Trennung von seiner langjährigen Freundin ist dieser größte Erfolg ein Happy End für Harting. „Das war so ein hartes Jahr. Es hat sich viel gelohnt, das Beißen und Kämpfen“, meinte der Koloss mit dem sensiblen Gemüt.
Was nun auf den populären Sportstar in der Heimat zukommt, will er gelassen abwarten. „Ich bin derjenige, der die Leistung generiert hat. Das versuche ich so gut wie möglich darzustellen“, sagte Harting als nun aussichtsreicher Anwärter bei der Wahl zum „Sportler des Jahres“. „Natürlich bestehe ich nicht auf irgendwelche Ehrungen. Ich fände es aber schön, wenn die Leute das so sehen und das honorieren würden.“
Harting kritisiert Sportunterricht an Deutschlands Grundschulen
Diskus-Olympiasieger Robert Harting hat den Sportunterricht an Deutschlands Grundschulen kritisiert. Wenn er von Kindern höre, dass sie im Unterricht fast nur Fußball spielen, „setzen wir die sportliche Zukunft für Deutschland aufs Ziel“, sagte der 27-Jährige am Mittwoch bei einer Pressekonferenz im Deutschen Haus in London.
Die Lehrer sollten die Leichtathletik nicht vernachlässigen, „da geht sonst so viel Potenzial für Deutschland verloren“, sagte Harting weiter. Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft vor drei Jahren in Berlin habe gezeigt, dass die Kinder Vorbilder brauchen. „Wir wünschen uns doch alle, dass sie uns nacheifern.“
Mit Material von dpa und dapd