Hamburg. Werder Bremens Sportchef Frank Baumann über den Abstieg der Nordclubs, staatliche Hilfen für den HSV und Kritik von Torsten Frings.

Frank Baumann ist ein gefragter Mann in dieser Woche. Der Geschäftsführer Sport ist noch immer dabei, die wirtschaftliche Zukunft von Werder Bremen zu sichern. Kurz vor dem Nordderby gegen den HSV am Sonnabend im Weserstadion (20.30 Uhr/Sky und Sport1) ist der Prozess nahezu abgeschlossen. Baumann sitzt im Büro, schaltet sich per Zoom mit dem Abendblatt zusammen und spricht über die dramatischen Wochen an der Weser und die guten europäischen Zeiten. 

Hamburger Abendblatt: Herr Baumann, wie oft mussten Sie in dieser Woche noch mal die Anekdoten von 2009 aus der Schublade ziehen?

Frank Baumann: Angesprochen wurde ich bislang eigentlich nur von den Medien. Im Alltag sind die Werder-Wochen für mich kein Thema. Aber Sie können mich gerne an die eine oder andere Anekdote erinnern.

Das tun wir. Sie haben im Uefa-Pokal-Halbfinale im Rückspiel in Hamburg das 3:1 geschossen, nachdem zuvor eine Papierkugel den Eckball verschuldet hat.

Ich habe eigentlich gar nicht viel dazu beigetragen, außer dass ich am zweiten Pfosten angeschossen wurde (lacht). Dass die Papierkugel schuld war an dem Eckball, habe ich erst nach dem Spiel in der Kabine mitbekommen.

In Prozent: Wie viel Schuld traf die Papierkugel am HSV-Fiasko?

Das müssen Sie besser den HSV fragen. Ich würde sagen, dass wir auch ohne die Papierkugel gewonnen hätten, aber sie hat uns definitiv geholfen.

Das gute Stück steht mittlerweile in Bremens Museum. Wann haben Sie dem wahrscheinlich teuersten Papierfetzen der Welt zuletzt einen Besuch abgestattet?

Durch die Pandemie war leider auch unser Wuseum, wie wir es nennen, lange Zeit geschlossen. Ich hätte theoretisch häufiger die Möglichkeit, dort vorbeizuschauen, weil es nur drei Stockwerke unter meinem Büro liegt. Aber grundsätzlich lebe ich lieber in der Gegenwart und für die Zukunft als in der Vergangenheit.

Frank Baumann (l., mit Transfermarkt.de-Geschäftsführer Matthia Seidel) im Mai 2009 bei der Übergabe der berüchtigten Papierkugel ans Bremer Wuseum.
Frank Baumann (l., mit Transfermarkt.de-Geschäftsführer Matthia Seidel) im Mai 2009 bei der Übergabe der berüchtigten Papierkugel ans Bremer Wuseum. © Witters | Unbekannt

Erlauben Sie uns trotzdem noch einen Rückblick: War Ihnen nach diesen vier Spielen direkt klar, wie episch diese 19 Tage für beide Clubs sein würden?

Mit der Auslosung war schon klar, dass das etwas ganz Außergewöhnliches ist. So etwas kommt selten vor. Dazu kam die Brisanz, die ein Nordderby mit sich bringt. Und es ging ja nicht nur um die Goldene Ananas. Zwei Finalteilnahmen waren auch für uns nicht normal, obwohl wir in den Jahren zuvor oben mitgespielt haben und auch der HSV in der Bundesliga noch sehr gut dabei war.

In Hamburg sind sich auch die Verantwortlichen von damals relativ einig, dass diese Werder-Wochen 2009 der Anfang vom Ende waren. Teilen Sie die Einschätzung?

Es ist schwer, sich ein Urteil zu erlauben, aber ich habe den HSV natürlich aus der Ferne betrachtet. Viele Traditionsvereine habe damit zu kämpfen, dass die Erwartungshaltung aufgrund der erfolgreichen Vergangenheit extrem groß ist. Der HSV war damals ja auch noch eine der Topmannschaften Deutschlands. Es gab dann trotz der erfolgreichen Saison eine Unzufriedenheit und viele Wechsel auf den relevanten Positionen. Und die haben eher für Unruhe als für Stabilität gesorgt.

Schicksalhafte Begegnungen: Frank Baumann (l.) und der damalige HSV-Stürmer Ivica Olic im Halbfinal-Rückspiel des Uefa-Cups.
Schicksalhafte Begegnungen: Frank Baumann (l.) und der damalige HSV-Stürmer Ivica Olic im Halbfinal-Rückspiel des Uefa-Cups. © Witters | Unbekannt

Wenn der HSV-Abwärtstrend 2009 begann, wann und warum begann dann der Werder-Abwärtstrend?

Da gibt es mehrere Momente. Wir haben 2010 noch Champions League gespielt. Ein Turningpoint war, dass wir sie dann nicht mehr erreicht haben, aber einen Kader zusammen hatten, mit dem es aus finanziellen Aspekten notwendig war, sie zu erreichen. Wenn man das dann zwei Jahre nicht schafft, hat das große Auswirkungen auf die Kaderplanung. Man hat Spieler mit hohen Verträgen, die schwerer vermittelbar sind, wenn sie nicht so performen. Dann kommt man in eine Abwärtsspirale, die auch der HSV so erlebt hat. Es dauert dann, bis man sich wieder fängt. Wir hatten bis 2019 noch einmal einen Aufschwung.

Was ist dann schief gelaufen?

Der Sommer 2019 war ein Wendepunkt zum Negativen. Wir hatten eine gute Saison mit 53 Punkten und dem Pokalhalbfinale, sind beinahe in die Europa League eingezogen. Wir wollten mit dem Verein den nächsten Schritt gehen. Wir hatten Max Kruse verloren und trotzdem große Ambitionen. Wir wollten die Leistungsfähigkeit noch weiter ausreizen, noch weiter nach oben bringen und haben es dann ein Stück weit übertrieben, was in einer schweren Verletzungsmisere gemündet ist. Da hatten wir sportlich und wirtschaftlich lange dran zu knabbern.

Ihr früherer Mitspieler Torsten Frings hat Sie im „Kicker“ als Hauptverantwortlichen für Werders Abstieg bezeichnet. Möchten Sie ihm widersprechen?

Jeder darf seine Meinung haben. Ich habe die Gesamtverantwortung im Sport. Wenn wir absteigen, kann ich mich als Verantwortlicher nicht freisprechen. Wir haben die vergangenen Jahre sehr selbstkritisch aufgearbeitet. Ich sehe es als meine Verantwortung, in schwierigen Zeiten nicht wegzulaufen und jetzt mit klaren Ideen und guten Entscheidungen dafür zu sorgen, eine neue Mannschaft aufzubauen und die wirtschaftliche Krisensituation zu bewältigen. Was Torsten betrifft: Wir haben ein gutes Verhältnis und daran wird sich auch nichts ändern.

Werder galt immer als ein wirtschaftlich sehr solider Verein. Mussten Sie in den vergangenen Jahren finanziell zu sehr ins Risiko gehen, um in der Bundesliga noch mitzuhalten?

Wir haben uns nicht von außen treiben lassen, sondern für uns im Team mit Florian Kohfeldt den Anspruch definiert, das Bestmögliche zu erreichen. Ein gewisses, aber überschaubares wirtschaftliches Risiko einzugehen, ist notwendig, um gewisse Ziele zu erreichen. Die sportliche Misere und die Corona-Pandemie haben uns dann richtig erwischt. Wir konnten sportlich nicht mehr nachlegen, weil uns wirtschaftlich das Wasser bis zum Hals stand.

Sie mussten bei der DFL Nachbesserungen im Hinblick auf die Zweitliga-Lizenz vornehmen. Die Frist ist abgelaufen. Haben Sie von der DFL schon Bescheid bekommen, dass Sie sich keine Sorgen mehr um den drohenden Sechs-Punkte-Abzug machen müssen?

Wir haben mit harten Maßnahmen wie dem Darlehen, einer Mittelstandsanleihe und Transfereinnahmen nicht nur die Nachforderungen erfüllt, sondern auch unsere wirtschaftlichen Ziele erreicht, die wir gegenüber den Banken und Anliegern zugesagt haben. Deswegen wird es auch keinen Punktabzug geben.

Im Prospekt zur Anleihe heißt es, dass die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einnahmeausfälle den Fortbestand des SV Werder Bremen gefährdet hätten. Wie groß war die Insolvenzgefahr?

Man kann nicht wegdiskutieren, dass es Momente gab, in denen wir nicht wussten, was in zwei Monaten passiert. Das waren kritische Phasen. Trotzdem waren wir immer optimistisch, dass wir es schaffen. Da muss man unserem kaufmännischen Geschäftsführer Klaus Filbry und seinem Team ein großes Kompliment machen.

Warum hatte Ihr Club größere Schwierigkeiten durch die Corona-Krise zu kommen als manch anderer Club?

Andere Clubs hatten durch die vergangenen Jahre eine bessere finanzielle Basis und konnten sich ein höheres Eigenkapital aufbauen. Wir hatten unser Eigenkapital von 2010 bis 2016 von 40 Millionen Euro auf Null reduziert. Seit ich 2016 Geschäftsführer wurde, haben wir jedes Jahr Eigenkapital aufgebaut, aber es war nicht genug, um die Einnahmeausfälle abzudecken.

Der HSV erhielt staatliche Corona-Hilfen in Höhe von zehn Millionen Euro, Werder erhielt eine staatliche Bürgschaft in Höhe von 20 Millionen Euro. Können Sie Menschen verstehen, die damit ein Problem haben?

Da muss man zunächst unterscheiden. Das eine ist eine Bürgschaft, die wir – da wir davon ausgehen, unseren damit abgesicherten Kredit zurückzuzahlen – nicht in Anspruch nehmen werden. Das andere sind Corona-Hilfen. Der HSV hatte die Verluste unverschuldet zu verzeichnen. Das ist eine legitime Sache. Schön wäre es, wenn es im Branchenvergleich eine gewisse Einheitlichkeit geben würde.

Hannovers Martin Kind hat sogar ein sehr gravierendes Problem mit den staatlichen Zahlungen. Ist seine Kritik angemessen oder heuchlerisch, weil 96 möglicherweise Hilfszahlungen auch geprüft, aber nicht bewilligt bekommen hat?

Die Pandemie hat auch den Fußball getroffen. Dass es staatliche Hilfen gibt, ist nicht verwerflich. Der Fußball ist für viele Arbeitsplätze verantwortlich und die Clubs zahlen viele Steuern, auch der HSV.

Der HSV kämpft derzeit mit der Stadt Hamburg darum, wieder 50 Prozent der Zuschauer ins Stadion zu lassen. In Bremen sind Sie da schon einen Schritt weiter. Ist es trotzdem für Sie eine Überlegung, im Weserstadion bald nur noch Geimpfte und Genesene reinzulassen?

Ich will das nicht ausschließen. Wir führen zu dem Thema Gespräche und haben uns noch nicht final entschieden. Dazu müsste das Bundesland Bremen aber zunächst einmal die Corona-Verordnung verändern.

St. Paulis Präsident Oke Göttlich hat gerade erst vorgeschlagen, dass auch Trainer und Spieler geimpft oder genesen sein müssten. Würden Sie eine 2G-Regelung für die Profis unterstützen?

Wir haben eine Vorbildfunktion und haben immer wieder auf die Wichtigkeit des Impfens hingewiesen. Die allermeisten in den Clubs sind geimpft. Dadurch ist der Spielbetrieb gesichert. Meine Hoffnung ist, dass wir den größten Teil der Pandemie hinter uns haben und Stück für Stück zur Normalität zurückkehren können.

Ganz unabhängig von Corona: Ist der HSV für Sie in der Zweiten Liga ein mahnendes Beispiel?

Die Rahmenbedingungen sind durch die Pandemie anders als in dem Jahr, in dem der HSV abgestiegen ist. Der HSV hat damals versucht, durch ein gewisses finanzielles Risiko den Aufstieg schnell wieder zu schaffen. Das ist bei uns nicht möglich. Wir können nicht alles auf das Ziel ausrichten, sofort wieder aufzusteigen. Wir wollen sportlich etwas aufbauen, die wirtschaftliche Stabilität hat aber absolute Priorität.

Haben Clubs wie Werder und der HSV unter den gegebenen Rahmenbedingungen wie 50+1 überhaupt noch die Chance, mit Clubs wie Wolfsburg, Leverkusen, Hoffenheim und Leipzig perspektivisch in der Bundesliga zu konkurrieren?

Die Gefahr ist da, dass diese Clubs enteilen. Es gibt eine Zweiklassengesellschaft. Die erste Klasse ist immer größer und der Verdrängungswettbewerb immer schwieriger geworden. Man wird nicht von heute auf morgen wieder mit diesen Clubs mithalten können. Ich bin aber überzeugt, dass man durch eine klare Strategie und viele gute Entscheidungen wieder bessere Zeiten erleben kann.

Wann sehen wir denn das Nordderby wieder in der Bundesliga?

Von mir aus so schnell wie möglich.