Hamburg. Durch das 0:2 im Relegationsrückspiel gegen Hertha verpassten die Hamburger den Aufstieg und bleiben ein fünftes Jahr zweitklassig
Tim Walter schlich mit seinen drei weinenden Kindern in die Kabine. Bakery Jatta saß auf der Ersatzbank und ließ seinen Tränen freien Lauf. Hunderte HSV-Fans hockten noch eine halbe Stunde nach dem Abpfiff auf der Nordtribüne und trauerten. Ihr großer Traum vom Aufstieg war am Montagabend geplatzt. Nach dem 0:2 (0:1) im Relegationsrückspiel gegen Hertha BSC ist klar, dass der HSV in der kommenden Saison zum fünften Mal in Folge in der Zweiten Liga spielt. Trotzdem wurde Trainer Walter und die Mannschaft von den Fans gefeiert. Sie hatten alles gegeben. Nicht nur an diesem Abend. Doch es reichte nicht. Der Bundesligist aus Berlin war an diesem Abend zu stark für den HSV. „Es tut heute sehr weh, und morgen wird es auch noch sehr wehtun“, sagte Mittelfeldspieler Jonas Meffert. „Für die Stadt, die Fans und den Verein tut es mir unglaublich leid.“
Hertha-Trainer Felix Magath feierte ausgerechnet am Ort seiner größten Erfolge als Spieler die Rettung – und gab danach seinen Abschied bekannt. Damit hatte in Berlin nach dem 0:1 im Hinspiel kaum jemand gerechnet. Magaths geliebter HSV dagegen wird auch in nächste Saison gegen Sandhausen, Regensburg und Heidenheim spielen – anstatt gegen Bayern München, Borussia Dortmund oder Europa-League-Sieger Eintracht Frankfurt.
Relegation: HSV-Idole stimmten Team auf das Berlin-Spiel ein
Dabei war die Stimmung im mit diesmal 55.000 Zuschauern ausverkauften Volksparkstadion bereits vor dem Anpfiff europapokalreif. Die euphorisierten Fans hatten das Team mit einer riesigen Choreo eingestimmt. Ehemalige Profis wie Rafael van der Vaart, Mladen Petric, Jaroslav Drobny oder Guy Demel hatten sich über Videobotschaften zu Wort gemeldet. „Gebt Gas, wir glauben an euch“, sagte Ex-Stürmer Ivica Olic. Und Stadionsprecher Christian Stübinger brüllte in sein Mikro: „Lasst uns für das lauteste Volksparkstadion der Geschichte sorgen.“
Doch schon nach vier Minuten war es plötzlich ganz still im Stadion – bis auf den Jubel im Gästeblock. Nach einer Ecke wuchtete Hertha-Kapitän Dedryck Boyata den Ball mit dem Kopf zum frühen 1:0 für Hertha über die Linie. Es war genau das passiert, was aus Hamburger Sicht nicht passieren sollte. Die im Hinspiel noch so leblos auftretenden Berliner strotzten plötzlich vor Selbstbewusstsein und glaubten wieder an sich.
Magath, der sich vor dem Spiel noch in aller Ruhe mit seinem alten Mitspieler Horst Hrubesch unterhalten hatte, schien diesmal den richtigen Plan entwickelt zu haben. Er brachte im Mittelfeld Santiago Ascacibar und Kevin-Prince Boateng in die Startelf. Die beiden zeigten vor allem den Zweikämpfen, wie Bundesliga geht.
Hertha BSC dominierte den HSV im eigenen Stadion
Die Hertha spielte mit Härte. Und der HSV wirkte beeindruckt. Es dauerte rund 20 Minuten, bis die Mannschaft von Trainer Tim Walter sich vom frühen Schock erholte. Doch Richtung Strafraum von Hertha ging beim HSV kaum etwas. Ganz anders als noch im Hinspiel. 1:9 lautete nach 45 Minuten das Torschussverhältnis. Lucas Tousart (31./40.) verpasste es gleich zweimal, auf 2:0 zu erhöhen. Eine Torchance für den HSV? Fehlanzeige.
Bakery Jatta, der nach seinen muskulären Problemen rechtzeitig zum Anpfiff wieder fit wurde, versuchte es immer wieder mit Tempo über die rechte Seite. Viel mehr hatte der HSV aber nicht zu bieten. „Wir haben noch 45 Minuten Zeit“, sagte der ehemalige Kapitän David Jarolim, der zusammen mit seinem Landsmann Jaroslav Drobny ins Stadion gekommen war. „Ich bin 700 Kilometer aus Prag gekommen, um den Aufstieg zu feiern. Ich habe keine Lust mehr, den HSV in der Zweiten Liga zu sehen.“
Die Hamburger nahmen sich Jarolims Worte zu Herzen. Mit Wiederanpfiff präsentierte sich der HSV viel mutiger. Moritz Heyer stellte Herthas Torwart Oliver Christensen mit seinem Distanzschuss erstmals vor kleinere Probleme (48.). Auch Glatzel näherte sich nach Jattas Hereingabe dem Berliner Tor (62.).
Plattenhardt düpierte HSV-Torhüter Heuer Fernandes
Doch der Treffer fiel erneut auf der anderen Seite. Und wieder war es wie bei Hertha unter Magath üblich ein Standard. Marvin Plattenhardt brachte einen Freistoß von der rechten Seite in die Mitte. Der Ball nahm eine ähnliche Flugkurve wie der Schuss beim Tor von Ludovit Reis im Hinspiel und landete schließlich im linken oberen Eck. Daniel Heuer Fernandes streckte sich vergeblich, doch er kam nicht mehr ran. Anders als bei Reis sah der Schuss allerdings auch gewollt aus. Hertha führte mit 2:0 und war dem Klassenerhalt plötzlich ganz nah.
Bei den HSV-Fans kullerten bereits die ersten Tränen. Doch sie hatten noch Hoffnung. Schließlich war ihre Mannschaft in dieser Saison schon so oft zurückgekommen. Walter brachte mit Josha Vagnoman und Mikkel Kaufmann zwei frische Spieler. Ersatztorhüter Tom Mickel peitschte die Zuschauer noch mal an. Der HSV griff jetzt permanent an, aber es gab keine wirklichen Chancen mehr. Kurz nach der Gelb-Roten Karte für Tousart (90.+6) beendete Schiedsrichter Deniz Aytekin ein packendes Spiel.
„Heute fühlt es sich beschissen an“, sagte Sportvorstand Jonas Boldt. „Und trotzdem: hier hat sich etwas entwickelt. Wir haben das gegen viele Widerstände geschafft.“ Das spürte man vor allem, als Walter mit Sprechchören gefeiert wurde. Der Chefcoach hat trotz dieses Abschlusses viele Argumente gesammelt, um in der kommenden Saison mit der Mannschaft einen neuen Anlauf zu starten. Das sah auch HSV-Vorstand Thomas Wüstefeld so: „Wir bleiben zusammen. Wir greifen wieder an. Wir sind ein Team“, sagte er. Am 15. Juli beginnt bereits die kommende Zweitligasaison. Der HSV wird nicht viel Zeit haben, um die große Enttäuschung der Relegation zu verarbeiten.
„Wir kommen wieder“, hatte das Abendblatt vor vier Jahren nach dem erstmaligen Abstieg getitelt. 1472 Tage später ist klar, dass es noch mindestens ein weiteres Jahr dauern wird, ehe es der HSV womöglich im fünften Versuch vollbringt.