Hamburg. Vor dem Stadt-Derby setzt St. Pauli zum Überholen an. Ein Blick in die Hauptstadt zeigt, wie schnell es zur Wachablösung kommen kann.

Ich weiß noch genau, als ich mein erstes Stadtderby live im Stadion gesehen habe. Es war ein kalter Sonnabendnachmittag, an dem sich der Underdog beim großen Favoriten durchsetzte. 2:1 siegte Union Berlin an jenem 5. Februar 2011 im Olympiastadion gegen Hertha BSC.

Das Siegtor schoss der heutige Sky-Experte Torsten Mattuschka mit einem Freistoß aus 25 Metern. Gefühlt waren es 40 Meter, ich werde es nie vergessen. 74.244 Zuschauer machten dieses Zweitliga­duell zu einem Fußballfest, das ich mir als gebürtiger Berliner nicht entgehen lassen wollte. Auch wenn Union an diesem Abend der verdiente Sieger war, bestand für mich kein Zweifel, dass Hertha die Nummer eins der Stadt bleiben wird.

HSV droht Wachablösung wie in Berlin

Elf Tage später stand bereits das nächste Stadtderby an. Diesmal empfing der HSV den FC St. Pauli eine Liga höher. Ich lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Hamburg, an ein Ticket kam ich deshalb aber nicht. Doch auch der Kneipenbesuch, das Tor von Gerald Asamoah und die umgetretene Eckfahne samt HSV-Flagge von St. Paulis Benedikt Pliquett sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. An jenem 16. Februar setzte sich der Kiezclub bekanntlich mit 1:0 im Volkspark durch. Derbys gewinnen offenbar immer die Außenseiter, dachte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn.

Ziemlich genau elf Jahre später wurde diese These widerlegt. Denn am Mittwochabend blieb die Überraschung im Pokal aus. Der klare Favorit Union gewann 3:2 bei der Hertha, die ihre Vormachtstellung in der Stadt längst verloren hat, womit auch meine zweite These aus jenen grauen Februartagen widerlegt wurde: Die Köpenicker haben es in Rekordzeit geschafft, dem Stadtrivalen aus sportlicher Sicht den Rang abzulaufen.

Stefan Walther
Der Autor ist HSV-Reporter beim Hamburger Abendblatt. © HA | Andreas Laible

Gerade einmal ein Jahrzehnt hat es bis zur Wachablösung gedauert. Es ist ein Szenario, das längst auch dem HSV droht, sollte St.  Pauli seine historische Chance nutzen und aufsteigen, während der Rivale aus dem Volkspark zweitklassig bliebe. Auch wenn ein solcher Saisonausgang noch im Konjunktiv formuliert werden muss, so scheint er mit jedem Spieltag realer zu werden.

Hertha wurde größenwahnsinnig – wie der HSV?

Wer das nicht glauben mag, der braucht nur nach Berlin zu schauen. Das Beispiel der beiden Hauptstadtvereine zeigt, wie schnell die Rollen getauscht werden können. Auf der Suche nach Erklärungen sind durchaus einige Parallelen zu den beiden Hamburger Clubs zu erkennen.

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Trotz der Derbyniederlage stieg Hertha im Sommer 2011 souverän in die Bundesliga auf. Union hatte sich zwar die inoffizielle Stadtmeisterschaft gesichert, war in der Liga aber nur Mittelmaß. Ein erneuter Abstieg und ein weiterer souveräner Aufstieg später schien sich beim Club aus dem Westen der Hauptstadt etwas Nachhaltiges zu entwickeln. Ein Weg, der sich unter Trainer Pál Dárdai fortsetzte. Doch dann wurde Hertha größenwahnsinnig. Investor Lars Windhorst, in der freien Wirtschaft als Heuschrecke bekannt, pumpte aberwitzige 374 Millionen Euro in den Verein, den er nun zum „Big City Club“ transformieren wollte.

Es folgten viele falsche und vor allem kostspielige Personalentscheidungen und die bittere Erkenntnis, dass man Erfolg im Fußball nicht kaufen kann. Auch nicht mit 374 Millionen Euro. Während der Rivale aus dem Osten der Stadt in dieser Zeit viele clevere Transfers tätigte und zum Beispiel Max Kruse von seinem Projekt überzeugte, kündigte Windhorst an, weitere Millionen zu investieren. Der Lerneffekt scheint groß zu sein.

FC St. Pauli kann HSV überholen

Auch beim HSV kennt man sich mit einem polarisierenden Geldgeber und verbrannten Millionen bestens aus. Klaus-Michael Kühne investierte zwar „nur“ etwas weniger als ein Drittel der Summe von Windhorst in den HSV, doch der Effekt war mit einem völlig überteuerten Kader und wenig Qualität der gleiche. Von diesen Altlasten hat sich der HSV inzwischen weitestgehend befreit. Dieser Prozess dauerte allerdings drei harte Zweitligajahre, in denen der Stadtrivale mit cleveren Personalentscheidungen zunehmend aufholte – und nun sogar zum Überholvorgang ansetzt.

Einen Favoriten gibt es an diesem Freitag schon gar nicht mehr. Zuschauer im Stadion leider auch kaum. Und dennoch wird es wieder ein Fußballfest werden, über das noch Wochen später gesprochen wird. So wie damals in Berlin bei meinem ersten Stadtderby.