Hamburg. HSV-Trainer befördert Jan Gyamerah vom Streichkandidaten zum Musterschüler. Das Toptalent des Clubs als Leidtragender?
Am Montagmittag wurde Tim Walter noch einmal ernst. Nachdem sich der HSV-Trainer in der Nacht nach dem Pokalsieg gegen Eintracht Braunschweig noch einmal die ganze Partie detailliert angeschaut hatte, kam seine Mannschaft am Tag danach nicht drumherum, ein zweites Mal die geballte Kritik über die Szene in der 44. Minute über sich ergehen zu lassen. Der HSV hatte am Vorabend zwar mit 2:1 seine Hausaufgaben erledigt, doch der Treffer zum zwischenzeitlichen 1:1 sorgte in der obligatorischen Mannschaftssitzung vier Tage vor dem Derby gegen St. Pauli dann doch für ein kollektives Nachsitzen.
„So ein Tor, wie wir es kassiert haben, das ist eine Frechheit meiner Mannschaft. Nicht nach hinten zu laufen, ist fahrlässig“, hatte Walter bereits direkt nach dem Spiel beim Bezahlsender Sky geschimpft – und sich besonders Ex-Kapitän Tim Leibold vorgeknöpft: „Wenn der Einwurf über mich drübergeworfen wird und ich schaffe es nicht mehr, auf meine Position zu kommen, dann habe ich den Job verfehlt. Bereitschaft ist alles.“
HSV-Trainer Walter befördert Gyamerah zum Musterschüler
Übersetzt in den Schulalltag könnte man die Rüge von Fußballlehrer Walter wohl in zwei Wörtern zusammenfassen: „Setzen, Sechs!“ Doch weil der emotionale Trainer neben der Fundamentalkritik auch die Lobhudelei im Repertoire hat, brauchte es nicht einmal eine halbe Stunde am späten Sonntagabend, ehe Walter die eigene Kritik relativierte. „Das 0:1 war ein Fehler von uns. Das passiert halt im Fußball“, sagte der Coach – und lobte ungefragt den Minuten zuvor so gescholtenen Leibold. „Leibe macht das gut.“
Willkommen in Walters Welt. Zuckerbrot und Peitsche heißt das Prinzip.
Fachlich widersprach sich der HSV-Coach nicht einmal bei seinem Schlenker um 180 Grad. Denn während ihn „fehlende Bereitschaft“ in der einen Szene vor Luc Ihorsts Treffer zur Weißglut trieb („Unser Spiel ist darauf ausgelegt, dass wir viel Herz reinlegen. Das haben wir in der einen Situation nicht gemacht. Und deswegen bin ich auch sauer“), ist der 45-Jährige mit dem Großen und Ganzen seiner Mannschaft bislang sehr zufrieden.
Wird HSV-Toptalent Vagnoman Opfer des Systems?
Besonders das mutige Herausspielen aus der eigenen Defensive gefalle ihm. „Die ganze Abwehrkette harmoniert momentan sehr gut. Sie haben unsere Art Fußball verinnerlicht. Sie zocken mit Ferro (Keeper Daniel Heuer Fernandes, die Red.) richtig geil raus“, sagte Walter, der das mutige Herausspielen auch beim Derby am Freitag, den 13. (18.30 Uhr/ live bei Sky) fordert. „Mit unserer ,Back Four’ (der Viererkette, die Red.) bin ich sehr zufrieden.“
Als Prototyp für den Fußball, den Walter in dieser Saison von hinten heraus spielen will, darf ausgerechnet Jan Gyamerah benannt werden. „Absolut!“, stimmte der Coach nach der Partie zu, in der Sommer-Streichkandidat Gyamerah immer wieder das Spiel als Rechtsverteidiger-Ballverteiler angekurbelt hatte. Neben seinem Treffer, seinem ersten Tor nach 1773 langen Tagen ohne Pflichtspieltreffer, hatte der Defensivmann in der ersten Halbzeit sogar noch eine Großchance.
Direkt nach der Saison galt Gyamerah noch als Verkaufskandidat, der nur deswegen zum Neustart eine Chance erhielt, weil sich der etatmäßige Rechtsverteidiger Josha Vagnoman mit den Folgen einer langwierigen Oberschenkelverletzung herumplagte. Das Zwischenfazit lautet: Chance genutzt. Denn obwohl Toptalent Vagnoman, der von mehreren europäischen Clubs beobachtet wird, seinen Muskelfaserriss mittlerweile auskuriert hat, sieht Walter keinen Anlass für einen erneuten Wechsel.
Was HSV-Trainer Walter an Gyamerah schätzt
Dem Neu-Trainer gefällt, wie Gyamerah seine Rolle als mitspielender Defensivmann ausfüllt. Ähnlich wie auch Sebastian Schonlau, Jonas David und Leibold dribbelt der 26-Jährige, der beim ersten Derby in der vergangenen Saison (2:2) gemeinsam mit Vagnoman in der Startelf stand, immer wieder über den halben Platz und reißt so Lücken für seine Kollegen. „Es macht Spaß, weil die Jungs Spaß entwickeln. Dann macht es mir auch Freude“, lobte Walter.
Kurioserweise hatte Gyamerah seinen bislang besten Auftritt als mitspielender Defensivallrounder beim Derby in der vergangenen Saison im Volkspark. „Gyamerah ist der neue Spielmacher“, titelte seinerzeit das Abendblatt. Auch Walter-Vorgänger Daniel Thioune war nach der Partie voll des Lobes: „Wir haben eine gewisse Erwartungshaltung an ihn, die toppt er. Es bringt Spaß, ihn Fußball spielen zu sehen.“
Gyamerahs Problem: Die gewisse Erwartungshaltung konnte der gebürtige Berliner beim HSV über eine komplette Saison bislang genauso wenig erfüllen wie die ganze Mannschaft Walters Erwartungshaltung über ein komplettes Spiel. „Wenn die Jungs nach dem 1:0 auf dem Gaspedal bleiben, dann haben wir einen entspannten Abend. Wenn nicht, dann passiert das, was wir heute bekommen haben“, mahnte der Chefchoreograf, ehe er zum Ende der Pressekonferenz doch noch das eine oder andere Stückchen Zuckerl verteilte: „Wenn wir die Bereitschaft über 90 Minuten mitbringen, dann wird es schwer, gegen uns zu spielen und gegen uns Punkte zu holen.“
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Nächster Praxistest: Das Derby am kommenden Freitag am Millerntor. Dort ist ein Erfolg nach vier sieglosen Derbys in Folge nicht nur ein frommer Wunsch der Anhänger, sondern eine unmissverständliche Forderung der aktiven Fanszene. „Nach den enttäuschenden Auftritten in den letzten Spielzeiten erwarten wir vor allem, dass wir in diesem Jahr auch in sportlicher Hinsicht wieder als Nummer eins der Stadt aus der Saison gehen. Mit den mutlosen Auftritten in den beiden wichtigsten Spielen der Saison muss endlich Schluss sein“, hieß es in einem Pamphlet zum Saisonstart der aktiven Fan-Gruppen des Fördervereins Nordtribüne Hamburg e.V. „Wir wollen vielmehr endlich wieder eine Mannschaft auf dem Platz sehen, die 90 Minuten und 34 Spiele lang zeigt, dass sie stolz darauf ist, für unseren Hamburger Sport-Verein auf dem Rasen zu stehen. Nur das zählt am Ende!“, hieß es in den Statement.
Die Botschaft dürfte angekommen sein. Bereits am Sonnabend wusste Trainer Tim Walter im wahrsten Sinne des Wortes tänzelnd bei den HSV-Fans Eindruck zu schinden. Zu den Klängen von Abschlachs neuem Song „Wir sind der HSV“ ließ der Trainer bei seinem Besuch auf der Mitgliederversammlung die Hüften kreisen. „Wir sind, wir sind, wir sind der HSV. Wir sind, wir sind, ja, wir sind schwarz-weiß-blau. Von 1887 bis in alle Ewigkeit. Wir sind, wir sind, wir sind der HSV!“, dröhnte aus den Boxen.
Diese Ewigkeit soll nun am Freitag ab 18.30 Uhr ganz oben auf der Tagesordnung stehen. „Ich freu mich drauf“, sagte Walter. „Wir sind der HSV!“