Hamburg. Jonas Boldt hat Daniel Thioune entlassen und setzt bis zum Saisonende auf Horst Hrubesch. Geht auch der Sportvorstand damit all in?
Und plötzlich saß sogar Angela Merkel auf dem Pressepodium im ersten Stock des Volksparkstadions. „Die Entscheidung war alternativlos“, sagte die Bundeskanzlerin, die in Wahrheit natürlich gar nicht die Bundeskanzlerin, sondern Jonas Boldt war. Der HSV-Sportvorstand, schwarzes Sakko, dunkler Rollkragenpullover, schaute staatsmännisch wie bei einer Merkelschen Neujahrsansprache in die Kamera, gab Auskunft zur Lage der HSV-Nation – und bemühte bei seinen Erklärungen zur Entlassung Daniel Thiounes auch Merkels Lieblingssatz, der es 2010 sogar zum Unwort des Jahres brachte.
Alternativlos also. Genau drei Tage, nachdem Boldt und Sportdirektor Michael Mutzel in sehr viel mehr Sätzen beschrieben hatten, warum die Alternative Trainerwechsel gar nicht zur Diskussion stünde, hatte sich die Stimmungslage nach dann doch vielen Diskussionen über das Wochenende um 180 Grad gedreht. „Wir haben festgestellt, dass die Dynamik zuletzt immer mehr zugenommen hat, dass wir Gefahr liefen, von unserem Weg abzukommen, und dass die Saison austrudelt“, begründete Boldt die Entlassung Thiounes und die Entscheidung, Horst Hrubesch bis Saisonende als Interimstrainer zu verpflichten.
Am Sonntagabend hatten sich Boldt, Mutzel und Thioune zu einem Sechsaugengespräch getroffen, in dem das HSV-Trio „offen und ehrlich“ über die vergangenen Tage und Wochen sprach. Ein „All in“ hatte Thioune vor seinem „Endspiel“ gegen den Karlsruher SC angekündigt – und wurde nun nach dem 1:1 und dem damit fünften Spiel in Folge ohne Sieg mit einem „All over“ konfrontiert.
Thioune verlor Rückhalt bei HSV-Profis
„Wir haben es als zwingend angesehen, eine größere Justierung vorzunehmen. Zuletzt war bei Daniel die Führungskraft nicht mehr in diesem Maße vorhanden“, sagte Boldt am Tag danach. Was er nicht sagte: Sowohl er als auch Sportdirektor Mutzel hatten sich in den Tagen zuvor auch bei der Mannschaft umgehört und offenbar größere Differenzen als erwartet wahrgenommen. Die Überzeugung sei dann nicht mehr dagewesen, so Boldt, „dass das Konstrukt mit Mannschaft und Trainer noch funktioniert. Ein unbelasteter Start in die neue Saison war nicht mehr möglich.“
Auf den Tag vor 300 Tagen klang das noch ganz anders. „Wir wollen die Entwicklung in den Fokus stellen – und das verkörpert Daniel mit Haut und Haar“, hatte Boldt erklärt, nachdem er Thioune für rund 500.000 Euro aus dessen laufendem Vertrag in Osnabrück herausgekauft und der neue Hoffnungsträger seinen Zweijahresvertrag unterzeichnet hatte.
Eine Laune des Schicksals: Schon damals, bei der Vertragsunterzeichnung am 6. Juli, wusste Thioune Horst Hrubesch in seinem Rücken – wenn auch nur auf einem historischen Foto an der Wand, das 30 Jahre zuvor bei einem Mannschafts-Shooting für den „Playboy“ aufgenommen worden war.
Verlor Thioune die HSV-Profis wegen Wood?
Vergangenheit. Im Hier und Jetzt beschlichen die HSV-Entscheider über das Wochenende immer mehr Zweifel, dass Thioune das Lenkrad noch in dieser Saison herumreißen könne. „Die Beziehung zwischen Trainer und Spielern hat immer mehr gewackelt“, sagte Boldt, der derartige Tendenzen auch schon während des fünftägigen Kurztrainingslagers in Süddeutschland rund um die Spiele gegen Sandhausen (1:2) und Regensburg (1:1) erkannt haben wollte.
Bereits wenige Tage davor hatte es einen lautstarken Kabinendisput zwischen Thioune und Stürmer Bobby Wood gegeben, der zur sofortigen Trennung im Fall des US-Amerikaners geführt hatte. Eine verständliche Maßnahme des Vereins, die allerdings innerhalb der Mannschaft nach Abendblatt-Informationen sehr schlecht angekommen war.
Wood war es auch, der als einer der Ersten am Montag die Nachricht des Trainerwechsels auf dem offiziellen Instagram-Kanal des HSV mit einem „Gefällt mir“-Klick versehen hatte. Es folgten frühere HSV-Profis wie Mladen Petric, Dennis Diekmeier und René Adler, aber auch der aktuell an den KSC verliehene Xavier Amaechi, der unter Thioune stets einen schweren Stand hatte.
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Bot Thioune Rücktritt an? Das passierte wirklich
Thioune selbst war am Montag für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Der Coach, der sich im Gegensatz zur Mannschaft in der Anhängerschaft großer Beliebtheit erfreute, verabschiedete sich noch während der Boldt-Pressekonferenz persönlich von seinen Spielern. In dem Sechsaugengespräch am Vorabend mit Boldt und Mutzel soll er sogar eingeräumt haben, Verständnis für deren Entscheidung zu haben.
Ein Rücktrittsangebot, wie es auf verschiedenen Internetseiten gerüchteweise kolportiert wurde, hat es nach Abendblatt-Informationen aber nicht gegeben. Das bekräftigte am Montag auch Boldt deutlich in der Pressekonferenz: „Daniel ist ein Kämpfer. Er ist der Letzte, der aufgeben würde.“
HSV: Wird es auch für Boldt und Mutzel eng?
Kämpfen müssen jetzt auch Boldt und Mutzel, deren propagierter „Weg der Entwicklung“ gescheitert scheint – auch wenn Boldt selbst das so nicht sehen wollte. „Wir wollen diesen Weg nicht abbrechen. Unsere Idee ist nach wie vor, hier auf junge und entwicklungsfähige Spieler zu setzen und uns als Club weiterzuentwickeln. Nun haben wir leider gemerkt, dass wir mit Daniel als Führungsfigur ein Stück weit von diesem Weg abgekommen sind“, sagte Boldt, der mit seiner konsequenten Entscheidung nun selbst „all in“ geht.
Denn sollte auch Hrubesch unabhängig von etwaigen Aufstiegshoffnungen keinen sofortigen Stimmungsumschwung schaffen, könnte die Stimmung nach einem Nichtaufstiegs-Hattrick im Sommer auch für Boldt als Gesamtverantwortlichen ähnlich ungemütlich werden wie zuletzt für die „Das ist alternativlos“-Kanzlerin.
„Ich kann verstehen, dass die Menschen da draußen das nun wieder als typischen HSV-Mechanismus bewerten“, sagte Boldt am Montagmittag zur Trainerentscheidung – und irrt. Denn ein „typischer HSV-Mechanismus“ wäre eher, wenn im Sommer auch im Vorstand und Aufsichtsrat das große Stühlerücken beginnen würde. Die gute Nachricht ganz zum Schluss für Boldt: Glücklicherweise gibt es für dieses Szenario sehr wohl noch Alternativen.