Hamburg. Rechtzeitig vor dem letzten Saisonviertel zeigt der HSV, dass er mannschaftlich und taktisch gewachsen ist.

Die Nachrichten, die Tim Leibold auf seinem Handy erreichten, wurden auch am Sonntag nicht weniger. SMS um SMS, WhatsApp um WhatsApp vor allem aus seiner Heimat „flatterten herein“, berichtete der HSV-Kapitän am Tag nach dem 2:0 (1:0)-Sieg gegen den FC Heidenheim. Der Inhalt der Nachrichten war fast immer der gleiche: „Du avancierst zum Torjäger und verdrängst noch den Terodde von der Torschützenliste.“ So erzählte es Leibold nach dem ersten Doppelpack seiner Profikarriere.

Tagelang wurde darüber philosophiert, wer beim HSV den mit dem Coronavirus infizierten Mr. Doppelpack, Simon Terodde, ersetzen würde. Die Antwort, mit der niemand gerechnet hatte: Leibold, Tim. Linksverteidiger. Nur der zweifache Torschütze, der wusste noch ganz genau, dass er durchaus auch vor dem gegnerischen Tor Qualitäten hat. „In der Jugend beim VfB Stuttgart war ich noch Mittelstürmer. Dann bin ich Stück für Stück nach hinten gerückt. Beim 1:0 war ich aber in gewohnter Mittelstürmermanier zu finden“, sagte Leibold mit einem Lächeln im Gesicht.

Leibold überrascht auf neuer HSV-Position

Überraschend war dabei nicht nur, dass Linksfuß Leibold beim 1:0 (15.) zunächst mit einer Haaresbreite seines Kopfes und beim 2:0 (50.) mit seinem rechten Fuß erfolgreich war, sondern auch, dass der Abwehrspieler in seinem 58. HSV-Spiel erstmals im Mittelfeld auflief.

„Kein Platz mehr für den Kapitän?“ hatte die „Bild“ wenige Tage zuvor gefragt, nachdem Leibold nach seiner Rotsperre wieder spielberechtigt war, der HSV aber ohne ihn gegen Kiel (1:1) und in Bochum (2:0) zwei richtig gute Spiele gemacht hatte. Die Antwort von Trainer Daniel Thioune: „Ein Kapitän gehört auf den Platz und an Bord. Man muss dann irgendwo einen Raum für ihn finden.“

Wie Thioune den HSV taktisch neu erfindet

Thioune fand nicht nur im linken Mittelfeld den richtigen Raum für Leibold, sondern auch für die anderen zehn Spieler eine passende Positionierung – mit vielen Überraschungen, die in dieser Form keiner vorhergesagt haben dürfte. Er tauschte nicht nur für die Außenverteidiger Jan Gyamerah und Josha Vagnoman die Seiten, sondern auch für die Innenverteidiger Stephan Ambrosius und Moritz Heyer. Auch Sonny Kittel spielte bahnversetzt, während im Sturm Bobby Wood und Manuel Wintzheimer in Doppelfunktion den Terodde-Ausfall kompensierten.

„W und W haben sich in den vergangenen Monaten immer angeboten. Manuel und Bobby haben das Vertrauen mehr als gerechtfertigt“, sagte Thioune, dessen taktische Überlegungen mal wieder vollständig aufgehen sollten. So positionierte er etwa ganz bewusst Rechtsverteidiger Gyamerah links hinter Leibold, damit der schnelle Vagnoman in der verschiebenden Viererkette mehr Platz auf der rechten Seite bekam, Leibold wiederum eine bessere Absicherung erhielt. Und auch vorne liefen die umtriebigen Wood und Wintzheimer nahezu immer in die richtigen Räume.

HSV ist als Einheit bereit für den Aufstieg

Noch mehr als über die Umsetzung seiner taktischen Ideen freute sich Daniel Thioune aber über eine Erkenntnis, die ihm große Zuversicht geben wird, dass der HSV seine Spitzenposition auch im letzten Saisonviertel nach der Länderspielpause verteidigen wird. Acht Spieltage vor Schluss hat sich die Mannschaft zu einer richtigen Einheit gefunden, die geschlossen gegen den Ball arbeitet. Wie schon beim 2:0 in Bochum war auch beim 2:0 gegen Heidenheim die Basis, dass jeder Spieler seine Defensivarbeit ausfüllte. „Der Trainer darf heute mal ein bisschen stolz sein auf seine Mannschaft“, sagte Thioune.

Als Beispiele für den Fleiß nannten der Trainer und sein Kapitän die beiden Künstler Aaron Hunt und Sonny Kittel, die gegen Heidenheim vor Spielfreude sprühten, sich aber auch für die Rückwärtsbewegung nicht zu schade waren. „Aaron und Sonny haben auch defensiv alles reingeworfen. Wenn das die Basis bleibt, holen wir in den letzten acht Spielen noch einige Punkte“, sagte Leibold. Sein Trainer ergänzte: „Vieles entscheidet sich in dieser Liga über die Defensive. Man muss nicht immer gut Fußball spielen, um ein Spiel zu gewinnen.“

Hunt glänzt beim HSV

Gegen Heidenheim verteidigte der HSV aber nicht nur im Kollektiv, sondern spielte auch noch richtig guten Fußball. Beiden Toren gingen Kombinationen über mehrere Stationen voraus. Vor allem Hunt glänzte dabei als Initiator. Seine Chipflanke vor dem 1:0 wäre wohl auch ohne Leibolds Scheitelberührung reingegangen, beim 2:0 öffnete er mit einem Dribbling nach innen den entscheidenden Raum für Wintzheimer, der wiederum im richtigen Moment startete und zu Leibold legte. „Wir haben heute sehr reifen Fußball gespielt“, sagte Hunt.

Reif aber spielten vor allem auch die Jungprofis wie Ambrosius (22), Vagnoman (20), Amadou Onana (19) oder Wintzheimer (22). Die Ausfälle beim HSV von Terodde, Jeremy Dudziak, David Kinsombi oder Toni Leistner waren gegen Heidenheim zu keinem Zeitpunkt zu spüren. „Wir haben einen super Kader und können jeden Ausfall kompensieren“, sagte Wintzheimer, der vor der entscheidenden Saisonphase eine Ansage an die Konkurrenz richtete: „Wenn wir so weitermachen, sind wir schwer zu schlagen.“

Zumal nach der Länderspielpause nicht nur Terodde, Dudziak und Kinsombi wieder einsatzfähig sein sollen, sondern auch die langzeitverletzten Innenverteidiger Leistner und Rick van Drongelen. Dann wird Trainer Thioune richtig schwere Entscheidungen treffen müssen. Aber das tut er gerne. „Es ist für mich eher ein Vergnügen, eine Auswahl zu treffen, als wenn sich im schlimmsten Fall noch unser Teammanager ein Trikot anziehen muss“, sagte der Chefcoach.

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Kapitän Leibold hat seinen Platz nach seinem Doppelpack in jedem Fall sicher. Am Sonntag konnte er daher nicht nur in Ruhe seine Nachrichten weiterlesen, sondern auch auf dem Sofa das Frankenderby gucken und sich freuen, dass seine ehemaligen Nürnberger Kollegen bei HSV-Verfolger Greuther Fürth ein 2:2 holten.

Am freien Montag hoffen dann alle HSV-Profis, dass Fortuna Düsseldorf am Abend im Topspiel gegen den VfL Bochum punktet. Dann würde der HSV als Tabellenführer in die Länderspielpause gehen. Leibolds Wort zum Sonntag: „Wir wollen bis zum Ende der Saison an der Tabellenspitze bleiben.“

Die Statistik:

  • HSV: Ulreich - Vagnoman, Heyer, Ambrosius, Gyamerah - Onana (80. Gideon Jung), Hunt (89. David) - Kittel, Wintzheimer (80. Narey), Leibold (87. Meißner) - Wood (87. Jatta). - Trainer: Thioune
  • 1. FC Heidenheim: Kevin Müller - Busch, Mainka, Hüsing, Theuerkauf (69. Schimmer) - Schöppner - Sessa (84. Schnatterer), Kerschbaumer (46. Mohr) - Thomalla (46. Pick) - Kühlwetter, Kleindienst. - Trainer: Schmidt
  • Schiedsrichter: Christof Günsch (Berlin)
  • Tore: 1:0 Leibold (15.), 2:0 Leibold (50.)
  • Zuschauer: keine
  • Gelbe Karten: - Kleindienst (3)
  • Torschüsse: 18:10
  • Ecken: 4:7
  • Ballbesitz: 53:47 %
  • Zweikämpfe: 152:121