Hamburg. Geschäftspartner verlangt hohen Schadenersatz. HSV-Vorstand Thomas Wüstefeld weist Ansprüche zurück. Die Hintergründe.

Es gibt Tage, die vergisst man nicht. Besondere Tage. Der 31. Januar 2022 war ein solcher Tag im Leben von Thomas Wüstefeld. Es war sein erster offizieller Tag als HSV-Vorstand. Im Handelsregister wurde sein Wechsel in den Vorstand der HSV Fußball AG zum 31. Januar eingetragen. Für den Fan ging ein Traum in Erfüllung. Doch es war auch der Tag – und das hatte nichts mit dem HSV zu tun –, an dem Wüstefeld eine Forderung über 32 Millionen Euro Schadenersatz ins Postfach flatterte.

Und das ist nicht das einzige Problem, mit dem sich der Unternehmer jenseits des Fußballs beschäftigen muss. Dem Abendblatt liegen dazu zahlreiche Dokumente, E-Mails, Chatprotokolle und Aussagen vor. Es geht um persönliche Vorwürfe, Millionenforderungen und ein Insolvenzverfahren.

Zwei vom Abendblatt befragte Unternehmer kündigten zudem rechtliche Schritte gegen Wüstefeld an.

Wie es zur Millionenforderung gegen HSV-Boss Wüstefeld kam

Das war der Auslöser: Eine Medizintechnikfirma aus dem Hamburger Raum hatte Wüstefelds Firma Medsan für 2000 bestellte PCR-Testgeräte bereits 5,5 Millionen Euro überwiesen. Nach wochenlangem Hin und Her wurden 28 Geräte geliefert. Die Anwälte des Medsan-Kunden schrieben an Medsan-Geschäftsführer Wüstefeld: „Sie haben unsere Mandantin durch Täuschung über ihre quantitative Lieferfähigkeit, über Ihre qualitative Lieferfähigkeit und über ihre Lieferbereitschaft zum Abschluss eines wirtschaftlich bedeutenden Vertrages – nämlich des vorliegenden Liefervertrages – veranlasst.“

Da der Kunde bereits Abnehmer gehabt habe und mit hohem Umsatz und Gewinn rechnete, liege der Schaden insgesamt bei mehr als 32 Millionen Euro. Diese Summe solle Wüstefeld überweisen. Ob die Firma ihre Forderung gegenüber Medsan juristisch durchsetzen kann, muss sich zeigen.

Thomas Wüstefeld sagte, das Schreiben sei ihm bekannt. Er sei offen für einen sachlichen Dialog. „Wir haben die Warenauslieferungen durchgeführt, derzeit besteht eine nachweisliche Forderung von Medsan an diesen Kunden, eindeutig, nicht andersrum! Diese Forderung ist bereits aus dem gewöhnlichen Mahnwesen und in juristischer Aufarbeitung.“

Mehrere weitere Kunden von Medsan, die vom Abendblatt befragt wurden, erheben ähnliche Vorwürfe, dass sie Waren bestellt, sie aber nicht geliefert bekommen haben. Darunter ist ein börsennotiertes Unternehmen aus Marburg. Die Firma bestellte bei Medsan Ware für einen zweistelligen Millionenbetrag. Die Rechnungen liegen dem Abendblatt vor. Geliefert wurde: nichts. Bezahlt aber auch nicht.

Thomas Wüstefeld: „Das sind unsachliche Anschuldigungen“

Wüstefeld sagte: „Wir haben eine Anzahlungsrechnung erstellt, die Ware für diesen Auftrag kommissioniert und versandbereit gestellt, dann hat unser Kunde den Auftrag nachweislich storniert, aus diesem Grund kam es zu keiner Auslieferung.“

Zwei leitende Mitarbeiter haben die Firmengruppe am Brandshofer Deich zwischen Großmarkt und Güterumgehungsbahn verlassen. Sie erheben nun schwere Vorwürfe gegen Wüstefeld. In WhatsApp-Nachrichten etwa, die dem Abendblatt vorliegen, heißt es an Medsan-Partner: „Ich habe nach reichlicher Überlegung und Abwägung möglicher Konsequenzen für mich persönlich eine Entscheidung getroffen.“ Es gehe darum, gutgläubige und ehrbare Menschen davor zu schützen, „von Dr. Wüstefeld skrupellos belogen, nachhaltig getäuscht, hintergangen, ausgetrickst und dann ausgenommen und beklaut zu werden“. Damit sind vor allem die Lieferversprechen gemeint.

Wüstefeld sagte: „Das sind unsachliche Anschuldigen wohl einer ehemaligen Führungskraft.“ Er werde das gegebenenfalls mit dem früheren Mitarbeiter persönlich erläutern.

Eine namhafte chinesische Firma erklärte schriftlich, Wüstefeld schulde ihr eine erhebliche Summe. Wüstefeld sagte: „Wir sind mit allen Kunden und Partnern im gewöhnlichen Liefer- und Zahlungsverkehr.“

Wüstefelds Firma bioTECgroup in der Insolvenz

Eine der vielen Firmen, in denen Wüstefeld Anteilseigner und Geschäftsführer ist, befindet sich derzeit im Insolvenzverfahren. Das bestätigte der Insolvenzverwalter dem Abendblatt. Das Verfahren über die „überschuldete und zahlungsunfähige“ bioTECgroup wurde am 9. Dezember 2021 um 11.11 Uhr eröffnet.

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Diese Gesellschaft war im Januar 2017 gegründet worden, Geschäftsführer: Dr. Thomas Wüstefeld. „Gegenstand des Unternehmens ist die Forschung, Entwicklung, Herstellung und der Vertrieb von chemischen, biologischen und natürlichen Produkten aller Art. Das Unternehmen betreibt in diesem Zusammenhang ein Forschungs- und Analytiklabor sowie eine Produktionsstätte.“ Wie bei mehreren der Wüstefeld-Gesellschaften zog auch diese später um von Altona zum Brandshofer Deich.

Wüstefeld sagte, die Firma sei „kontrolliert in die Insolvenz gesetzt“ worden. Der Mitgesellschafter habe „extrem überhöhte Forderungen bezüglich seines Gesellschafteranteils“ gehabt. Er sei in Gesprächen über eine Lösung. Gebe es eine Einigung, könne die Insolvenz aufgehoben werden.

Wie sich Wüstefeld einen Namen gemacht hat

Zum Zeitpunkt des offiziellen Insolvenzverfahrens war der frischgebackene HSV-Investor Wüstefeld gerade Aufsichtsratsvorsitzender des Zweitligaclubs geworden. Ob er da bereits zum Panthersprung in den operativ tätigen Vorstand ansetzte? „Wüstefeld gestaltet die Zukunft des HSV“, schrieb das Abendblatt seinerzeit.

Das hört sich rückblickend fast schon prophetisch an. Dass Wüstefeld im Volkspark fortan waltete und gestaltete, kann man ihm nicht absprechen.

Er scheint wenig beeindruckt von dem, was um ihn und seine weltweiten Geschäfte passiert. Im Sport hat er sich als Corona-Test-Guru einen Namen gemacht. Mobile PCR-Testgeräte sind weltweit begehrt. Wüstefelds besondere „Ultra“-Maschinen in Toaster-Größe, die auch „Brotdose“ genannt wurden, können in kurzer Zeit mehr als ein Dutzend Abstriche mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit auf das Coronavirus testen. Solche Geräte hatte Wüstefeld auch dem HSV und vielen anderen Proficlubs verschafft. Einmal hatte sein Team morgens im Mannschaftshotel Spieler der Würzburger Kickers getestet, um ein Zweitligaheimspiel im Volkspark am Nachmittag zu retten. Das trug zum Mythos des Kastens bei – und zu dem seines Anbieters.

PCR-Testgerät stammt gar nicht von Wüstefeld

Ein Werbevideo zeigt die große Leistungsfähigkeit dieses PCR-Testgeräts und seines Verkäufers. Das Ultra SBMS 16, das Thomas Wüstefeld seinen Kunden präsentierte – Unternehmern und Vorstandsvorsitzenden –, ist eine Art „Game Changer“ der Corona-Pandemie. Eine tragbare Maschine, die Labore unnötig erscheinen lässt. Das ist Corona to go. Die Entwicklungschefin von Wüstefelds Medsan zeigt in dem Filmchen, wie man mit den Swabs hantiert, den Stäbchen für den Abstrich, wie man die Tubes hält, die Röhrchen, und dass man natürlich zu allem Gummihandschuhe braucht.

Sie sagt: „Wir sind ja hier zur Schulung unseres neuen PCR-Gerätes, was ganz viele Vorteile mit sich bringt.“ Die Kunden lauschen gespannt und staunen. Wüstefeld wirkt etwas aufgeregt. Es geht um viel.

Der kleine Haken an dieser mit Musik unterlegten Präsentation: Dieses PCR-Testgerät ist offenbar keine Erfindung von Wüstefeld oder seiner Firma. Es ist das Produkt einer australischen Firma. Wüstefeld sagt: „Wir haben bei der MIC (Brotdose) immer sehr deutlich gemacht, dass das Gerät nicht von uns kommt, sondern von einem Partner. Das kann man überall nachlesen. Wir beziehen uns auf die PCR-Applikation.“

Wüstefeld überzeugt HSV-Fans bei Mitgliederversammlung

Bei den geschäftlichen Auseinandersetzungen um die Firma Medsan bleibt vieles im Dunkeln: Wollte Wüstefeld an manche Kunden nicht liefern? Konnte er nicht? Ein Medsan-Kunde hat sogar Detektive auf seine Spur gesetzt. Was sie über den Unternehmer herausfanden, ist überschaubar: Name, Familie, Adresse, Beteiligungen. Und sie stießen auf das Insolvenzverfahren. Das hatte da bereits in Hamburger Wirtschaftskreisen die Runde gemacht.

Wie vereinbart der Mann sein unternehmerisches Tun mit dem Fulltime-Job beim HSV? Den wollte er – nach eigenen Angaben – ohne Honorar ausüben. Vorläufig. Sein einziger Lohn bislang: Anerkennung. Als in der vergangenen Woche am späten Mittwochabend die Mitgliederversammlung des Hamburger Traditionsvereins in der q.beyond-Arena vorbei war, gab es für Wüstefeld positives Feedback satt. Der HSV-Vorstand hatte ein paar Kritiker besänftigt und berichtet, wie er im Winter „den Fortbestand der HSV Fußball AG“ gesichert habe. Fast schon nebenbei verkündete er den ersten ausgeglichenen Geschäftsbericht seit elf Jahren.

„Die direkte und ehrliche Art, ohne Schönfärberei von Dr. Wüstefeld, hat mir wirklich gut gefallen. Man hat das erste Mal seit Langem das Gefühl, dass man weiß, woran man ist“, twitterte begeistert der frühere HSV-Supporterschef Tim-Oliver Horn.

Verlängert der HSV mit Thomas Wüstefeld?

Dabei wird die Frage, woran man bei Wüstefeld eigentlich ist, seit seinem einzigartigen Sprint durch die HSV-Gremien immer wieder gestellt. Im Herbst kaufte der Unternehmer nach „sehr intensiven Gesprächen über eine längere Periode“ (Wüstefeld) Milliardär Klaus-Michael Kühne 5,11 Prozent der AG-Anteile ab. Es dauerte nicht lange, ehe HSV-Präsident (und bis dato AG-Aufsichtsratschef) Marcell Jansen seinen früheren Geschäftspartner Wüstefeld auch als Aufsichtsrat vorschlug.

Überraschung Nummer eins folgte im Anschluss an die Hauptversammlung am 30. November 2021, auf der Wüstefelds Anteilskauf und seine Bestellung zum Aufsichtsrat offiziell gemacht wurden: Der Neu-Kontrolleur wurde direkt zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt – Jansen machte bereitwillig Platz. Allerdings nur für kurze Zeit.

Denn es folgte Überraschung Nummer zwei: Am 4. Januar ließ Wüstefeld sein gerade erst angetretenes Mandat ruhen und ließ sich in den Vorstand entsenden. Offiziell wurde das mit dem Handelsregistereintrag zum 31. Januar. Am selben Tag schickte die renommierte Hamburger Kanzlei Wüstefeld per Mail und Einschreiben mit Rückschein die Forderung über 32 Millionen Euro.

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Das Hamburger Abendblatt schrieb über Wüstefeld: „Vom Anteilskauf über den Aufsichtsrat, den Vorsitz des Kontrollgremiums bis in die Chefetage im Volksparkstadion in nur 36 Tagen – das muss man erst einmal schaffen.“

Aus Tagen sollen nun Jahre werden. Der Aufsichtsrat des HSV soll gewillt sein, Wüstefelds bislang unvergüteten Interimsposten in ein gut dotiertes Vorstandsmandat umzuwandeln. Dem Vernehmen nach geht es um einen Dreijahresvertrag. So der Plan. Der Aufsichtsrat tagt an diesem Donnerstag.