Hamburg. Nach sechs Jahren sind die Handballer zurück im Oberhaus. Zum Start gegen Göppingen sind sie gleich Außenseiter, aber nicht chancenlos.

Leif Tissier wäre vermutlich auch ein erstklassiger Pokerspieler. „Bis jetzt bin ich noch nicht besonders aufgeregt“, sagt der 21-Jährige mit einer Gelassenheit, als ginge es nur um irgendeine unbedeutende Klausur seines BWL-Studiums. Dass der Spielmacher des HSV Hamburg (HSVH) an diesem Mittwochabend (19.05 Uhr/Sky) gegen Frisch Auf Göppingen mit seinem Debüt in der Handball-Bundesliga aber eine deutlich wichtigere Prüfung bewältigen muss, scheint ihn (äußerlich) nicht besonders zu beeindrucken. „Ich weiß nicht, wie es sich ein paar Stunden vor Anpfiff entwickeln wird. Es ist eher eine große Vorfreude als eine Anspannung“, sagt er.

Auch vor dem größten Spiel seiner bisherigen Karriere wird der Shootingstar der vergangenen Aufstiegssaison wieder lässig in die Barclays Arena trotten, mit Kumpel Jan Kleineidam (22) ein paar Pässe hin und her spielen und sich am Ende des Aufwärmprogramms den letzten Wurf aufs Tor nehmen. So wie er es immer gemacht hat, so wie es bisher so gut für ihn funktioniert hat.

Handball-Bundesliga: Für Leif Tissier erfüllt sich ein Traum

Ausgebildet beim TVGH Billstedt und AMTV Hamburg, wechselte er 2015 in die B-Jugend des HSVH, stieg mit dem Team 2018 in die Zweite und nun in die Erste Liga auf. „Natürlich ist es etwas Besonderes. Ich habe nie gesagt, dass ich mal in der Bundesliga spielen will. Es ist eher ein Traum, der sich erfüllt“, sagt der gebürtige Billstedter, der sich mit Kapitän und Kreisläufer Niklas Weller (28) im Angriff beinahe blind versteht. „Es ist eine Ehre, in der stärksten Liga der Welt mitspielen zu können“, findet Tissier.

Da fast der gesamte Kader der Aufstiegsmannschaft noch nie ein Spiel im deutschen Oberhaus absolviert hat, verpflichtete der HSVH im Sommer vor allem eins: Erfahrung. Allein der vom TVB Stuttgart zurückgekehrte Torhüter Johannes Bitter (39), der vom FC Porto verpflichtete Kreisläufer Manuel Späth (35) sowie der von Champions-League-Sieger FC Barcelona gekommene dänische Weltklasse-Linksaußen Casper Mortensen (31) kommen gemeinsam auf weit über 1000 Bundesligaeinsätze und mehr als 300 A-Länderspiele.

Wullenweber rechtzeitig zum Saisonstart fit

Zudem holte der HSVH mit dem 2,05 Meter großen Russen Azat Valiullin (31) einen Bundesliga-erfahrenen Rückraumschützen von Absteiger Eulen Ludwigshafen und mit dem dänischen Rechtsaußen Frederik Bo Andersen (22) einen jungen Spieler mit Entwicklungspotenzial. Nur Nicolai Theilinger (29), der sich beim letzten Spiel für Frisch Auf Göppingen eine schwere Knieverletzung zuzog, wird dem HSVH als einziger Neuzugang noch mehrere Wochen lang fehlen. Der zuletzt angeschlagene Finn Wullenweber (Adduktoren) ist rechtzeitig zum Ligastart fit genug für den Kader.

„Es ist uns gut gelungen, die neuen Spieler zu integrieren. Das sind unkomplizierte Typen, die das Niveau der Mannschaft gleichzeitig noch einmal auf ein anderes Level gehoben haben“, sagt Tissier. Im viertägigen Trainingslager in Wittenberge (Brandenburg) wuchs die Mannschaft von Trainer Torsten Jansen auch durch verschiedene Teambuildingmaßnahmen zusammen. „Wenn drei, vier Aktionen mal nicht gelingen, hilft es, solche Spieler im Team zu haben, die dann Verantwortung übernehmen“, sagt Tissier.

HSV Hamburg gegen Göppingen Außenseiter

Anders als auf vielen anderen Positionen entschied sich der Verein gegen erfahrene Neuzugänge auf Tissiers Spielmacherposition. „Ich glaube, dass ich das als Vertrauensbeweis aufnehmen kann. Das wurde mir in den Verhandlungen auch so gesagt. Es ist ein schönes Gefühl, dass man hier wertgeschätzt wird, und nicht wirklich zusätzlicher Druck“, sagt Tissier, der im vergangenen Winter Angebote mehrerer Bundesligisten vorliegen hatte. Tissier entschied sich jedoch für eine Verlängerung bis 2023, zog mit seiner Freundin in eine Wohnung nach Lurup, wenige Minuten von der Trainingshalle im Volkspark entfernt.

Auch wenn das Niveau durch die Neuzugänge spürbar gestiegen sei, ist der HSVH gegen Göppingen der klare Außenseiter. Während die Süddeutschen mit Linksaußen Marcel Schiller (30), der in der vergangenen Saison mit 270 Treffern zweitbester Torschütze der Liga war, sowie Rückraumschütze Sebastian Heymann (23) mit zwei aktuellen Nationalspielern auflaufen und in diesem Jahr das internationale Geschäft anpeilen, geht es für den HSVH um den Abstiegskampf.

Tissier: HSVH für Überraschungen gut

Neben Mitaufsteiger TuS N-Lübbecke werden vor allem GWD Minden, HBW Balingen-Weilstetten und der TVB Stuttgart als Abstiegskandidaten gehandelt. „Wir sollten mental darauf vorbereitet sein, auch mal ein paar Spiele hintereinander zu verlieren. Wir kennen die Situation aber schon vom Aufstieg in die Zweite Liga“, sagt Tissier. Mit einem Saisonetat von vier Millionen Euro liegt der HSVH im unteren Mittelfeld der Liga. Meister THW Kiel spielt mit rund zehn Millionen Euro in einer anderen Sphäre. Das weiß auch Trainer Jansen, der das klare Ziel Klassenerhalt ausgegeben hat.

Dennoch, glaubt Tissier, könne der HSVH auch für eine Überraschung gut sein. „Wir verfügen über das Potenzial und die Qualität, gegen fast alle Teams der Liga mithalten zu können“, sagt er. „Trotzdem hat man in den vergangenen Jahren gesehen, wie schwer es für die Aufsteiger ist. Deshalb sollte der Blick erst einmal nach unten gehen.“

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Und wenn der 21-Jährige um kurz vor 19 Uhr neben Johannes Bitter im Spielertunnel steht, das Licht erlischt und er von Hallensprecher Finn-Ole Martins in die Arena gerufen wird, dürfte sein Puls dann doch noch ansteigen. Zumindest ein bisschen.

Tickets: Am frühen Dienstagabend waren noch knapp 500 der insgesamt 3000 Tickets verfügbar. Online und an der Abendkasse sind für geimpfte, genesene oder getestete Menschen weiterhin Karten für das Spiel erhältlich.