Hamburg. Das Geld schwindet, der Teamgeist wächst, die Zuschauer sind aus dem Häuschen. Torhüter Bitter rät jedem Kollegen, beim HSV zu bleiben.

Leere Kassen und düstere Aussichten, aber Superstimmung, rasende Fans und Siege am Fließband. Der zahlungsunfähige Handball-Bundesligist HSV Hamburg fühlt sich derzeit wie auf der Achterbahn. Dem Weltuntergangsszenario mit Insolvenz, Punktabzug und Absturz in die Bedeutungslosigkeit folgen mitreißende Spiele des Bundesliga-Fünften - Mäzen Andreas Rudolph zum Trotz, der keinen Pfifferling mehr auf den HSV geben will.

20 Minuten habe er schon gebraucht, um in den Trainermodus zurückzufinden, gestand Christian Fitzek nach 27:22 (11:8) über den SC Magdeburg. Das letzte Mal hatte er vor mehr als zehn Jahren als Verantwortlicher auf der Bank der HSV-Handballer gesessen. Nun muss der Geschäftsführer einspringen, weil sich Trainer Michael Biegler bis Februar nur um Polens Nationalmannschaft kümmern kann. Während Biegler den Gastgeber auf die EM im eigenen Land vorbereitet, coacht er das HSV-Team via Telefon und Mail. Den Rest machen die Spieler selbst.

Fitzek hält alles für unbeschreiblich

Fitzek, 54, begnügte sich bei seinem Comeback mit knappen Gesten und kurzen Ansprachen. Als Trainer wollte er sich gar nicht verstanden wissen: „Michael Biegler hat die Mannschaft vorbereitet, und sie hat das hervorragend umgesetzt. Es ist kaum zu beschreiben, was sie in den vergangenen Wochen geleistet hat.“

Um beim Beschreibbaren zu bleiben: Der Erfolg gegen Magdeburg war der fünfte Sieg nacheinander, der fünfte im Zeichen der schwersten Krise der Vereinsgeschichte. „Es ist ein emotionaler Spagat“, sagte Johannes Bitter, „aber wir haben auf dem Feld brutal Spaß.“ Er habe schon nach zehn Minuten das Gefühl gehabt, dass auch dieses Spiel gewonnen würde.

Am Ende wurden 21 Paraden bei Bitter gezählt, eine überragende Quote von fast 50 Prozent. Auch Hans Lindberg (zwölf Tore) stach aus der Statistik hervor. Am Mittwoch sollte sich die Serie in Lübbecke fortsetzen.

Stationen der Krise beim HSV Handball

2002

Mit dem Bau der neuen Multifunktionsarena im Volkspark übernahmen die Hamburger im Handball die Lizenz des zum damaligen Zeitpunkt finanziell angeschlagenen VfL Bad Schwartau. Ab der Saison 2002/03 startete der Handball Sportverein Hamburg in der Bundesliga.

Dezember 2004

Andreas Rudolph, der das Handball-Urgestein Heinz Jacobsen auf dem Präsidenten-Stuhl der Hamburger ablöst, rettet mit seinem Geld (weit mehr als 30 Millionen Euro) den Verein vor dem Untergang.

11. Mai 2011

Nach der ersten Meisterschaft für den HSV Hamburg stehen personelle Wechsel an: Martin Schwalb wird Präsident, Per Carlén neuer Trainer. Doch das Experiment misslingt: Schwalb kehrt auf die Bank zurück, Matthias Rudolph, der Bruder von Andreas wird Chef.

19. Juni 2013

Ex-Nationalkeeper Frank Rost wird als neuer Geschäftsführer präsentiert. Der vermeintliche Coup mit dem Fußballer im Handball-Club erweist sich schnell als 43-Tage-Irrtum von Hamburg.

16. November 2013

Andreas Rudolph ist wieder Präsident, nachdem sein Bruder Matthias die Brocken hingeworfen hatte.

18. Februar 2014

Andreas Rudolph erklärt den HSV Hamburg zum „Sanierungsfall“.

8. Mai 2014

In einer E-Mail erklärt Andreas Rudolph seinen Rücktritt und kündigt später an, kein privates Geld mehr in den Club stecken zu wollen.

15. Mai 2014

Die HBL verweigert dem HSV Hamburg in erster Instanz die Lizenz. Die Begründung: Ein Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist nicht erbracht.

1. Juli 2014

In der letzten Instanz (vier Minuten vor Ablauf der Frist durch eine erneute Millionen-Bürgschaft von Andreas Rudolph) erhalten die Hamburger doch noch die Lizenz.

3. Juli 2014

Trainer Martin Schwalb, der einen Tag später entlassen werden soll, erleidet einen Herzinfarkt. In einer Notoperation retten die Ärzte das Leben des Coaches.

6. August 2014

Christian Fitzek, ehemaliger sportlicher Leiter, Co- und Cheftrainer kommt als Geschäftsführer vom VfL Bad Schwartau nach Hamburg zurück.

23. Oktober 2014

Der Reiseunternehmer Karl Gladeck, der schon seit Monaten den HSV unterstützt, wird satzungsgemäß vom Aufsichtsrat zum neuen Präsidenten und Nachfolger von Frank Spillner ernannt.

4. Dezember 2014

Das Arbeitsgericht erklärt die mittlerweile ausgesprochene Kündigung von Martin Schwalb für unwirksam. Der Ex-Trainer soll Nachzahlungen in Höhe von fast 300 000 Euro erhalten.

9. Dezember 2015

Spieler und Angestellte des Vereins warten auf ihr Geld. Ein Krisengipfel tags zuvor mit Hauptgeldgeber Andreas Rudolph brachte kein Resultat.

16. Dezember 2015

Die Gerichtspressestelle Hamburg bestätigt einen Insolvenzantrag des HSV Hamburg.

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Bitter und der emotionale Spagat

Der sportliche Triumph am Sonntag hatte die Zuschauer von den Plätzen gerissen. 9156 waren gekommen, so viele wie noch nie in der laufenden Saison. Noch Minuten nach dem Schlusspfiff applaudierten sie der Mannschaft. „So lange es geht, machen wir weiter“, bekennt Bitter. Der 33 Jahre alte Schlussmann weiß aber auch: „Das ist natürlich ein emotionaler Spagat.“

Pure Emotionen: Die HSV-Handballer um Torhüter Jogi Bitter (gelbes Trikot) bejubeln den 27-22-Sieg über Magdeburg
Pure Emotionen: Die HSV-Handballer um Torhüter Jogi Bitter (gelbes Trikot) bejubeln den 27-22-Sieg über Magdeburg © Witters

Bitter formuliert, was in diesen Tagen schwerlich zu glauben ist: „Es macht totalen Spaß, in dieser Truppe zu spielen.“ Die ausgebliebenen Gehälter in den vergangenen beiden Monaten haben nicht zu Demotivation oder Arbeitsverweigerung geführt. Notstand und Ungewissheit scheinen die Truppe enger zusammenzuschweißen. „Ich bleibe so lange hier, bis es nicht mehr läuft“, schwört Bitter und versichert: „Jedem, der mich fragt, würde ich sagen: Bleib auch hier!“

Selbst Nationalspieler Adrian Pfahl, den Frisch Auf Göppingen möglichst schon im Januar zurückholen will, ist hin - und hergerissen. Auf der einen Seite will er zurück in die Heimat, raus aus der Ungewissheit, rein in geordnete Verhältnisse. Andererseits ermahnt ihn der gewachsene Teamgeist und die einzigartige Durchhaltestimmung zum Bleiben. „In den schwersten Zeiten steht man am stärksten zusammen“, sagt der Nationalspieler.

Auch Insolvenzverwalter ist begeistert

Mittlerweile gibt es Insolvenzgehalt, nicht so üppig wie das reguläre Salär, aber immerhin. Der vorläufige Insolvenzverwalter Gideon Böhm wühlt sich derweil durch Akten und Verträge und verbreitet vorsichtigen Optimismus. „Wir haben eine realistische Chance, ein tragfähiges Sanierungskonzept vorzulegen“, erklärte er unlängst.

Das Spiel gegen Magdeburg verfolgte der Rechtsanwalt in der Barclaycard-Arena und applaudierte begeistert. Arena-Geschäftsführer Uwe Frommhold, der seit Monaten auf Mietzahlungen wartet, steht weiterhin zum Schuldner. „Wir haben unser Scherflein beigetragen, dass es weitergeht“, bekennt er. Das alles flößt „Jogi“ Bitter Zuversicht ein: „Ich bin von Tag zu Tag mehr überzeugt, dass es klappt.“

Statistik gegen Magdeburg

Tore, HSV: Lindberg 12 (2 Siebenmeter), Brozovic 4, Hens 3, Pfahl 3, Nenadic 2, Schmidt 1, A. Damgaard 1, Jaanimaa 1; Magdeburg: M. Damgaard 5, Zelenovic 4, Haaß 4 (2), Lemke 3, Weber 3 (1), Bagersted 2, Grafenhorst 1. Schiedsrichter: Behrens/Fasthoff (Düsseldorf). Zuschauer: 9156. Zeitstrafen: 3; 4.