Hamburg. Der Sport1-Experte und ehemalige Profi-Handballer spricht über den neuen Trainer und die neue Bundesligamannschaft der HSV-Handballer.

Stefan Kretzschmar, 42, sitzt im Aufsichtsrat des Bundesliga-Aufsteigers SC DHfK Leipzig. Der frühere Weltklasse-Linksaußen fiebert dem ersten Bundesligaheimspiel seines Heimatvereins am Sonntag (17.15 Uhr) entgegen. Dabei geht es gegen den HSV mit dem von ihm sehr geschätzten Trainer Michael Biegler, 54. Als Sportdirektor holte er 2008 Biegler einst zum SC Magdeburg, 2013 nach Leipzig. Im Interview spricht Kretzschmar über Biegler, den HSV im Umbruch und die Chancen seiner Leipziger gegen den Champions-League-Sieger von 2013.

Hamburger Abendblatt : Haben Sie sich schon mit Michael Biegler Sticheleien gesimst oder telefoniert?

Stefan Kretzschmar (lacht): Unser Kontakt ist im Moment relativ karg, wird sich nach dem Spiel am Sonntagabend aber wieder intensivieren.

Was macht Ihrer Meinung nach den Menschen Michael Biegler aus?

Kretzschmar : Er ist einer der geradlinigsten Menschen, die ich kenne. „Beagle“ ist jemand, der immer die Wahrheit sagt und eigentlich gar nicht so richtig in dieses Handballgeschäft passt. Er ist ein sehr guter Freund, auf den man sich immer verlassen kann.

Und was zeichnet Biegler als Handballtrainer aus?

Kretzschmar : Ich kenne keinen innovativeren Trainer, er lässt sich immer etwas Neues einfallen. Er hat eine sehr gute Ansprache an die Mannschaft und geht sehr fair mit seinen Spielern um. „Beagle“ holt immer das Beste aus allen raus, er macht aus wenig viel. Erreicht er die Jungs, gehen sie für ihn durchs Feuer. Seine Stärken liegen im Artikulieren und in der Motivation seiner Spieler. Aber auch in der Trainingsmethodik. Er ist ein absoluter Fachmann.

Wo sehen Sie den neuen HSV Hamburg in dieser Spielzeit?

Kretzschmar : Man muss sich fragen: Was sind die Ansprüche jetzt nach dem Umbruch mit den nicht mehr vorhandenen so großen finanziellen Möglichkeiten vergangener Jahre? Wenn man da ehrlich ist – auch den Fans und der Stadt gegenüber –, dann glaube ich, dass ein Mittelfeldplatz das Ziel sein muss. Ich glaube nicht, dass der HSV mit den Champions-League- oder Europapokal-Plätzen etwas zu tun hat. Das würde mich sehr überraschen. Aber ich glaube auch nicht, dass sie gegen den Abstieg kämpfen werden. Es muss das Ziel sein, zumindest zu Hause begeisternden Handball zu spielen – ehrlichen Handball – und damit die Fans auf seine Seite zu ziehen. Auch wenn man jetzt nicht mehr die Weltklassemannschaft vergangener Jahre ist. Ich glaube, der Club geht den richtigen Weg, das ist kein Harakiri mehr wie in den Vorjahren. Das wird eine ehrliche Saison.

Sie freuen sich also über eine gute Entwicklung beim HSV?

Kretzschmar : Alle, die im Handball unterwegs sind, sind froh, dass Hamburg überhaupt noch eine Handballmannschaft hat, weil der Standort für unsere Sportart wichtig ist und die Halle ein Traum. Deshalb glaube und hoffe ich, dass das Projekt sehr sympathisch werden kann mit diesem neuen Trainer Michael Biegler.

Biegler hat ein Team mit zehn Neuzugängen zusammengestellt. Welche Positionen schätzen Sie als stark besetzt ein? Wo sehen Sie Schwächen?

Kretzschmar : Die Flügelzange ist herausragend: Hans Lindberg rechts und Casper Mortensen links – das sind Superaußen! Da findet man in der Liga kaum etwas Vergleichbares. Und ich finde, dass Johannes Bitter und Jens Vortmann ein tolles Torwartgespann sind. Mit Piotr Grabarczyk hat man außerdem einen guten Abwehrchef hinzugeholt, auf die Defensive hat der HSV das Hauptaugenmerk gelegt. Der Rückraum ist national sehr gut, sicherlich nicht Weltklasse. Man hat eine gute erste Sieben. Danach wird es schwerer, in der Breite ist der HSV nicht so gut aufgestellt. Für eine Bundesligamannschaft mit den finanziellen Möglichkeiten, die Hamburg nun mal gerade hat, ist der Kader aber gut.

Allerdings ist der neue HSV im DHB-Pokal am Vorwochenende schon an Zweitligist Nordhorn-Lingen gescheitert. Droht dem HSV gleich eine Krise?

Kretzschmar : Ach, man darf die Nordhorner nicht unterschätzen. Die wären letztes Jahr fast aufgestiegen. Das ist eine sehr gute Mannschaft mit großer Heimstärke. Wir haben da letztes Jahr mit Leipzig auch nicht allzu gut ausgesehen. So was kann passieren, dass man bei einem Top-Zweitligisten mal verliert. Für uns Leipziger ist das aber grauenvoll! Wenn man Michael Biegler kennt, weiß man, dass die Woche dadurch für die Spieler in Hamburg kein Zuckerschlecken wurde und sie am Sonntag noch motivierter und konzen­trierter sein werden. Ich hätte mir gewünscht, dass sie im Pokal weiterkommen und dann gegen uns ein, zwei Prozent weniger auf die Platte bringen. Aber die Illusion ist jetzt vorbei. Der HSV wird mit dem Messer zwischen den Zähnen auflaufen.

Aber Leipzig hat in der Vorbereitung immerhin den Heide-Cup in Schneverdingen gewonnen. Dort wurde der HSV nur Letzter. Ist Ihr Verein vor heimischer Kulisse womöglich der Favorit?

Kretzschmar : Favorit sind wir auf keinen Fall! Gegen kein Team in der Ersten Liga! Es geht für uns vom ersten Tag an nur ums Überleben. Wir wissen, die Vorbereitung war nicht schlecht, zählt am Ende aber gar nichts. Im Vergleich zur Liga war das ein Witz. Im Pokal sind wir unglücklich mit zwei Toren gegen die Füchse Berlin ausgeschieden, da haben wir auch noch etwas Selbstbewusstsein getankt. Wir rechnen uns schon Chancen aus, aber trotz allem sind wir Außenseiter. Vor sechs Jahren waren wir noch in Liga fünf. Jetzt spielen wir gegen den HSV. Das muss man auch genießen.

Sie sind doch sicher am Sonntag live in der Arena Leipzig mit dabei?

Kretzschmar : Ich kann leider nicht! Ich bin beim Start der 50. Bundesligasaison in der Dortmunder Westfalenhalle. Da spielt Gummersbach gegen Kiel. Ich muss als Sport1-Experte arbeiten, und davor spielt unsere alte Nationalmannschaft noch mal zum Jubiläum. Es ist unfassbar traurig, ich bin beim ersten Heimspiel meines Vereins nicht dabei.