Hamburg. Wer nach ganz oben will, führt ein Leben voller Entbehrungen bei schlechter Bezahlung. Die Nachwuchsprobleme nehmen zu.

Zum Frühstück gibt es meist ein bisschen gedünstetes Gemüse. Und Kaffee mit einem Schuss Milch und Zucker. Das muss reichen als Grundlage für den Rest des Tages. Dabei beläuft sich sein Arbeitspensum an manchen Renntagen auf sechs, sieben Starts. „Manchmal esse ich zwischendurch ein bisschen Obst“, sagt Adrie de Vries, 49 Jahre alt, 1,70 Meter lang, 55 Kilogramm schwer und von Beruf Jockey. Erst abends, nach getaner Arbeit, darf er wieder­ etwas Richtiges essen. Möglichst exaktes Gewicht ist die Grundlage für die Vergleichbarkeit und den Erfolg in diesem Sport. „Fisch, wieder Gemüse. Ich mag leichtes Essen“, sagt der Niederländer. „Mein Gewicht zu halten fällt mir nicht schwer. Meistens.“

Seit mehr als 30 Jahren geht das schon so. Rennreiter zu sein heißt verzichten, heißt Disziplin halten, heißt früh aufstehen für die Stall- und Reitarbeit, heißt reisen quer durchs Land, in Hotels übernachten, kein Wochenende haben, die Familie zu wenig sehen. Es heißt aber auch Adrenalinkick und Geschwindigkeitsrausch, wenn die Galopppferde ihre Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 70 Kilometern pro Stunde erreichen.

Hengst Dschingis First mag es eher elastisch

Jockey Adrie de Vries.
Jockey Adrie de Vries. © imago images / Galoppfoto

Wenn die zumeist kleinen und leichten Reiter in den Steigbügeln stehen, nur gehalten von den Zügeln in ihrer Hand, um dem eleganten Sprinter unter ihnen mitzuhelfen, noch den letzten Zentimeter im Kampf um den Sieg herauszulaufen. „Ja, das ist ein tolles Gefühl“, sagt Adrie de Vries. Er hat es schon oft erlebt. Zuletzt 2018, als er beim Deutschen Derby auf der Rennbahn in Horn das prestigeträchtigste Rennen der Branche gewinnen konnte. Zwölfmal hatte er es zuvor versucht. Ausgerechnet beim 13. Start klappte es. Mit Weltstar, trainiert von Markus Klug vom Gestüt Röttgen, ließ er die Konkurrenz hinter sich. Ein Traum ging in Erfüllung. Dieses Mal allerdings wird es schwierig.

Dschingis First heißt sein Derby-Pferd, drei Jahre alt, ein Hengst. Auch er trainiert von Markus Klug. „Dschingis First ist unkompliziert. Um die Distanz mache ich mir keine Sorgen“, sagt de Vries. Eher sorgt er sich um die Beschaffenheit des Geläufs. „Er mag es elastisch.“ Doch der Boden ist eher trocken. „Wir gehören nur zum erweiterten Favoritenkreis“, sagt de Vries. „Ich glaube, Laccario, Django Freeman und Quest The Moon werden das Rennen unter sich ausmachen.“ Es sei denn, irgendeine Zutat zwischen Reiter und Pferd stimmt nicht, bremst die angestrebte Harmonie. Oder die Strategie geht nicht auf. Dann haben auch die Außenseiter Chancen.

Adrie de Vries geht fünf Mal an den Start

Dass de Vries zwischen drei Rennen am Freitag mal eben zum Interview kommt, gehört zum Job dazu. Ähnlich wie Formel-1-Piloten sind es Jockeys gewohnt, sich kurzfristig zu fokussieren. Mental in einen Tunnel als Vorbereitung bis zum Wettkampf abzutauchen ist für sie kein Thema. Insgesamt geht de Vries fünfmal an den Start. Jedes Mal muss er sich auf ein neues Pferd einstellen. „Das ist kein Problem“, sagt er. „Ich sehe schon beim Angalopp den Charakter.“

Jockey Andrasch Starke.
Jockey Andrasch Starke. © imago images / Galoppfoto

Andrasch Starke (45), geboren in Stade, aufgewachsen in Hanstedt in der Nordheide, reitet einen der Favoriten. Quest The Moon, trainiert von Sarah Steinberg aus dem Münchner Stall Salzburg. Würde der Hengst siegen, wäre es der erste Sieg einer Trainerin. „Ein absolutes Ausnahmepferd“, sagt Starke. „Mit einem guten Auge.“ Nach 15.000 Rennen bislang in seiner Karriere hat er kein Problem damit, auch diesen Hengst noch nie geritten zu haben. „Ich habe ihn bei zwei Rennen live gesehen“, sagt er. „Danach wusste ich, was er für ein Typ ist. Total gelassen, voller Vertrauen. Ich freue mich auf das Rennen.“


Auch Starke muss bei einer Größe von 1,70 Metern und 54 Kilogramm Gewicht ständig Diät halten. „Mein Körper kennt es nicht anders“, sagt er. Mehr noch: „Hungergefühle kenne ich nicht.“ Und selbst wenn, die Waage ist unerbittlich. Dann geht es in die Sauna zum Abschwitzen. Zweimal 15 Minuten. Bei Bedarf auch mehr. Ganz wichtig: einreiben mit Babyöl, damit der Schweiß gut abfließt. Oder laufen im Schwitzanzug. Bis zu anderthalb Kilogramm schaffen die erfahrenen Gewichtsverlierer. Wer es übertreibt, vier Kilogramm in zwei Tagen, bezahlt mit seiner Gesundheit. „Man muss die Waage halten zwischen Fitness und Gewichtsverlust“, sagt Adrie de Vries.

70 Berufsreiter gibt es in Deutschland

„Es geht nicht um Kalorien“, betont Starke. Er hat in seiner Karriere so ziemlich alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Auch im Ausland. Diesmal wohnt er im Hotel Aspria. „Der Fitnessbereich ist perfekt“, sagt er. Sport gehört für die Jockeys dazu. Möglichst täglich. Zweimal laufen um die Alster ist Standard. Im Fitnessstudio dann geht es aufs Laufband oder den Crosstrainer. „Spinning mache ich auch total gern“, sagt der Reiter. Sein Frühstück besteht meist aus einer Tasse Tee, tagsüber immer mal wieder Wasser.

Etwa 135 Rennreiter gibt es in Deutschland, etwa 70 sind Jockeys, also Berufsreiter. Einige wenige davon sind Frauen. Sibylle Vogt (24) gehört dazu. Die Schweizerin darf schon zum zweiten Mal am Derby teilnehmen. Eigentlich sollte sie Winterfuchs aus dem Gestüt Ravensberg reiten, doch der hat eine Blessur. Nun sattelt sie Mooniac­, der von Roland Dzubasz trainiert wird. Ihre Vita liest sich wie die der männlichen Kollegen. Ponyreiten mit fünf Jahren, verrückt nach Pferden, dann nach Rennen. „Mit meinem Gewicht habe ich keine Pro­bleme“, sagt sie. 52 Kilogramm ist bei ihr Standard. Damit erfüllt sie jede Vorgabe der Waage mit Leichtigkeit.

Statistik belegt: Frauen sind erfolgreicher als Männer

Jockey ist ein Beruf mit Nachwuchssorgen. Viele Erfolgsreiter haben die 50 vor Augen. „Danach satteln die meisten um“, sagt Starke. Und weil sich die meisten jungen Männer mit Affinität zum Rennsport abschrecken lassen vom Verdienst. Zwischen 1200 und 2000 Euro verdient ein angestellter Reiter. Dazu kommen 70 Euro Sattelgeld, bei Sieg doppelt plus fünf Prozent der Siegprämie. Wer es nicht nach ganz nach oben schafft, kann nur schwer davon leben. Das schreckt ab.

Von 100 Bewerbungen an der Jockeyschule Köln sind inzwischen 99 Frauen. Die aber bleiben ebenfalls nicht lange dabei. Obwohl statistisch erwiesen ist, dass Frauen erfolgreicher sind als Männer, bekommen sie selten die Chance dazu. Galoppsport ist Männersport. Am Sonntag beim Kampf ums Blaue Band spielt das keine Rolle. Dann werden de Vries, Starke, Vogt und die 13 Starter beim wichtigsten Rennen in Deutschland weder an Hungergefühle noch an schlechte Bezahlung oder Gleichberechtigung denken. Dann geht es nur um eines: schneller zu sein als die anderen. „Für dieses Gefühl lebe ich“, sagt Starke.