Plötzlicher Boom: Die mitreißenden WM-Auftritte der „Klinsmänner“ stellen in den USA sogar Baseball und Basketball in den Schatten. Diese Euphorie ist selbst bei der WM 1994 nicht entstanden.
San Francisco. Pünktlich vor dem Duell mit Deutschland hat die „Soccer“-Euphorie in den USA sogar das Weiße Haus erreicht. Ein Fan von Jürgen Klinsmanns Team hat Barack Obama ganz offiziell ersucht, den Donnerstag zum nationalen Feiertag auszurufen. Dann treffen die Amerikaner bei der WM in Brasilien auf Deutschland - und viele ihrer alten und neuen Anhänger zu Hause können wegen der Anstoßzeit am Mittag nicht zuschauen.
Nun, die Petition auf „petitions.whitehouse.gov“ im Internet hatte keinen Erfolg, statt der erforderlichen 100.000 Stimmen erhielt sie bis Mittwoch nur ein paar Tausend. Aber die Aktion zeigte: „Soccer“ ist plötzlich verdammt schick in den USA. Klinsmanns Mannschaft ist mit ihren mitreißenden Auftritten etwas gelungen, was selbst die WM 1994 in neun amerikanischen Städten nicht schaffte.
Zeitungen und Online-Portale berichten staunend von der „Fußball-Krankheit“. Der World Cup ist „front page news“. Plötzlich sei das ganze Land „fußballverrückt“ geworden, heißt es nicht nur auf den Sportseiten, sondern in Aufmachern und Leitartikeln. Spätestens das dramatische 2:2 gegen Portugal im zweiten Gruppenspiel war so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Durchschnittlich 18,2 Millionen Menschen sahen auf ESPN zu, so viele wie nie in den USA bei einem Fußballspiel.
Wirklich unglaublich wird die Zahl im Vergleich. Der Kick stellte die fünf Spiele der diesjährigen Basketball-Finalserie der NBA und die World Series 2013 im Baseball in den Schatten (jeweils rund 15 Millionen/Schnitt). Auf dem spanischsprachigen Sender Univision schauten weitere 6,5 Millionen Fans das Spiel an. Die Fifa, stets auf weltweite Verbreitung ihres Sports bedacht, sprach hingerissen von einem „water shed moment“, einem Wendepunkt für den „Soccer“ in den Staaten.
Klinsmann und seine Deutschen haben daran einen nicht hoch genug einzuschätzenden Anteil. Aus der lange überwiegenden Skepsis gegenüber den „Germans“, die sich vermeintlich nicht mit den nationalen Symbolen Flagge und Hymne identifizierten, ist längst Hochachtung, hier und da gar Liebe geworden. Medien wie Fans loben das bescheidene Auftreten der Spieler um Jermaine Jones. Dass alle gut englisch sprechen, steigert die Sympathiewerte zusätzlich.
Jones, in Deutschland als unverbesserliches Raubein verschrieen, gilt den Amerikanern als demütig und charmant, neben Kapitän Clint Dempsey sehen sie im ehemaligen Schalker den besten Spieler. Auch Fabian Johnson (1899 Hoffenheim) wird sehr geschätzt, der Berliner John Brooks hat nach seinem Siegtreffer gegen Ghana fast den Status eines Volkshelden: In Anlehnung an den Spitznamen des Quarterback-Jungstars Johnny Manziel („Johnny Football„) wird er „Johnny Futbol“ gerufen - ein Ritterschlag.
Schon ist „Soccer“ in Kneipen eines der wichtigsten Gesprächsthemen, selbst bislang Uninteressierte beteiligen sich. Wer bei einem Spiel von Klinsmanns Jungs auf die Straße geht, hört aus vielen Häusern Anfeuerungsrufe. Sogar in den Baseball-Stadien wird Fußball gezeigt, wenn es Überschneidungen gibt. Während des Portugal-Spiels gab es acht Millionen Tweets, auf Facebook schrieben zehn Millionen Menschen 20 Millionen Nachrichten.
Bemerkenswert: Kein Land außerhalb Brasiliens hat mehr Karten für die Endrunde bestellt als die USA. Allerdings sind die Fußballverrückten dort nicht alle Fans des „USMNT“ (US Men National Team).
Die Begeisterung könnte selbst dann anhalten, wenn die „Klinsmänner“ früher scheitern sollten, als von Vielen erhofft. Die Profiliga MLS, die die Zahl ihrer WM-Teilnehmer verglichen zu Südafrika mehr als verdreifacht hat (21 in sieben Teams/2010 nur sechs in drei), hat am Mittwoch nach zweiwöchiger WM-Pause ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen. Vielleicht sollte Obama mal hingehen.