Hamburg. Die Abgänge von Kapitän Ziereis und Co. wirbeln die Hierarchie durcheinander. Wer wird künftig die Mannschaft anführen?
Der Kapitän musste von Bord gehen, auch sein Stellvertreter bekam keinen neuen Vertrag mehr. Zudem könnte von den einst vier weiteren Mitgliedern des Mannschaftsrats – also im maritimen Sinne der Offiziersriege – unter Umständen nicht ein einziger mehr da sein, wenn der FC St. Pauli Mitte Juli in die neue Zweitligasaison startet. Wie gravierend der personelle Umbruch, der sich im Team des Fußball-Zweitligisten in diesem Sommer vollzieht, tatsächlich ist, wird beim teaminternen Führungspersonal ganz besonders deutlich. Selten zuvor ist die Hierarchie in der St.-Pauli-Mannschaft zwischen zwei Spielzeiten derart durcheinandergewirbelt worden, wie es diesmal zu einem Teil schon vollzogen wurde und zum anderen Teil noch zu erwarten ist.
Kaderplanung: Führungsspieler wurden bei St. Pauli zuletzt häufig aussortiert
Konkret stellt sich die Situation so dar: Der bisherige Kapitän und Innenverteidiger Philipp Ziereis (29) erhielt von Sportchef Andreas Bornemann (50) ebenso keinen Vertrag mehr für die kommende Saison wie dessen Stellvertreter und Verteidigerkollege James Lawrence (29). Von den vier Mannschaftsratsmitgliedern hatte Marvin Knoll (31) den Verein schon im Januar Richtung MSV Duisburg verlassen. Maximilian Dittgen (27) erhielt in der vergangenen Woche die Botschaft, dass er nicht mehr gebraucht wird. Den Österreicher Guido Burgstaller zieht es aus familiären Gründen Richtung Süden, voraussichtlich zu Rapid Wien. Bleibt noch Linksverteidiger Leart Paqarada (27), der sich mit starken Leistungen für Erstligaclubs empfohlen hat. Vor allem Wiederaufsteiger Schalke 04 soll interessiert sein.
Wenn also das Team des FC St. Pauli am 11. Juni in die knapp fünfwöchige Saisonvorbereitung startet, wird es sich nicht nur sportlich neu formieren, sondern auch die interne Hierarchie völlig neu strukturieren müssen. Derzeit herrscht nicht nur ein eklatantes Führungsvakuum, sondern es gibt unter den verbleibenden Spielern auch praktisch keinen, der sich als logischer neuer Kapitän profiliert hätte. Das liegt auch daran, dass der künftig dienstälteste zur Verfügung stehende Spieler, der seit 2017 am Millerntor agierende Außenverteidiger Luca Zander (26), von seinem Typus her eher nicht für eine Anführerrolle in Betracht kommt. Intern wird er als eher introvertiert eingeschätzt. Zudem wird sich Zander der sportlichen Konkurrenz des gerade verpflichteten und hoch eingeschätzten Griechen Manolis Saliakas (25) erwehren müssen. Ein Kapitän, der um einen Platz in der ersten Elf bangen muss, ist sicherlich keine ideale Lösung.
Was macht einen guten Kapitän eigentlich aus?
„Ein guter Kapitän muss charakter- und meinungsstark sein, um eine Diskussion auch gut führen zu können und die Wünsche der Mannschaft gegenüber dem Verein platzieren und auch durchdrücken zu können“, beschreibt St. Paulis früherer Kapitän Bernd Nehrig (35, jetzt Viktoria Berlin) das aus seiner Sicht notwendige Anforderungsprofil. „Er muss kommunikativ sein und darf auch eine negative Kommunikation nicht scheuen“, sagt er weiter. So hatte er auch selbst das Amt geführt. Klare Aussagen und Meinungen waren stets sein Markenzeichen .
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St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann sieht die Lage nach dem Abgang der bisherigen Führungsriege hingegen weniger dramatisch. „Es wird auch in der kommenden Saison wieder einen Kapitän und Mannschaftsrat geben. Mit dem Wort Führungsspieler muss man vorsichtig umgehen. Es geht um Spieler, die auf dem Platz das Spiel und das System stützen. Das müssen nicht immer die sein, die nach außen am lautesten sind“, sagt er und stellt damit den sportlichen Aspekt deutlich weiter in den Vordergrund als die Fähigkeit, als Wortführer der Mannschaft gegenüber Trainer und Vereinsfunktionären auftreten zu können.
Zuletzt hatte Bornemann mit dem bisherigen Mannschaftsrat negative Erfahrungen gemacht, als dieser bei ihm wegen ausstehender Pokalprämien und Redebedarf über eine Aufstiegsprämie bei ihm vorstellig geworden war und dieser Vorgang im Nachgang an die Öffentlichkeit drang. „Ein Kapitän muss kritisch sein und darf nicht zu allem Ja und Amen sagen, was der Trainer und der Verein vorgeben“, betont unterdessen auch Sören Gonther (35, bisher Erzgebirge Aue), der bis zum Sommer 2017 Kapitän des FC St. Pauli und damit direkter Vorgänger von Nehrig war. „Ein kritischer Austausch ist immer erfolgreicher, als wenn man alles hinnimmt. Wir hatten bei St. Pauli mit Ewald Lienen immer einen guten Austausch. Er hat viel Wert auf unsere Meinung gelegt. Timo Schultz kann das auch“, sagte Gonther jetzt im Gespräch mit dem Abendblatt. „Viele haben Angst vor starken Persönlichkeiten. Dabei ist es ein Zeichen von Führungsstärke, wenn man sich mit starken Persönlichkeiten umgibt.“
Wird ein Neuzugang in der neuen Saison die Binde tragen?
Ob diese im aktuellen Team des FC St. Pauli schon längst vorhanden, aber bisher nur nicht so recht in Erscheinung getreten sind, ist unklar. Die Mittelfeldspieler Jackson Irvine (29), Marcel Hartel (26) oder auch Eric Smith (25) kämen vom Alter und ihrem Standing her möglicherweise in Betracht. Aber auch die Variante, dass ein ganz neu verpflichteter Spieler sofort die Kapitänsrolle übernimmt, ist nicht auszuschließen. „Das kann schon sein. Es wird in den kommenden Wochen ja noch etwas passieren“, sagt dazu Sportchef Bornemann auf Nachfrage und deutet damit Verpflichtungen von Spielern mit entsprechender Führungsqualität an.
Dieses Modell hatte im Übrigen St. Paulis Stadtrivale HSV zu Beginn der abgelaufenen Saison gewählt, als Trainer Tim Walter Neuzugang Sebastian Schonlau mit dem Kapitänsamt betraute. Es war in diesem Fall eine durchaus stimmige Entscheidung, was sicher auch daran lag, dass Schonlau diese Aufgabe schon zuvor beim SC Paderborn innehatte.
„Ein Kapitän ist in erster Linie das Sprachrohr der Mannschaft gegenüber dem Trainer und dem Verein. Gleichzeitig ist er idealerweise auf dem Platz der verlängerte Arm des Trainers“, beschreibt Sören Gonther die doppelte Rolle des Spielführers. „Er sollte auf dem Platz mit Leistung vorangehen, an der sich die Mannschaft aufrichten kann. Ich fand es auch immer gut, wenn der Kapitän mit dem Schiedsrichter spricht und sich auch mal Scharmützel mit dem Gegner liefert.“
Avevor-Comeback bei St. Pauli weiterhin nicht in Sicht
Offiziell zum Kader der kommenden Saison gehört beim FC St. Pauli aber auch noch ein Spieler, der schon einmal Kapitän des Millerntor-Teams war – Christopher Avevor (30). Der Innenverteidiger hat am 21. November 2020 beim 0:2 in Paderborn sein bisher letztes Punktspiel bestritten, ehe er sich erneut einer Operation am Sprunggelenk hatte unterziehen müssen. Seither kämpft er um sein erneutes Comeback. Zuletzt sah man ihn wieder auf dem Trainingsgelände Laufrunden drehen. „Das ist eine ganz schwierige Situation für alle. Er will unbedingt, macht sein Reha-Programm und wird regelmäßig getestet. Aber es gibt noch keinen Zeitplan, wann er wieder ins Mannschaftstraining einsteigen kann“, sagt Sportchef Andreas Bornemann zum Stand der Dinge. Ein baldiges Comeback als Kapitän ist damit für Avevor de facto ausgeschlossen.