Hamburg. Angstforscher Borwin Bandelow erläutert, wie der FC St. Pauli sein Nervenkostüm beim Saisonfinale im Griff behalten kann.
Lange Zeit spielte sich der FC St. Pauli befreit und ohne immensen Druck durch die Zweitligasaison und an die Tabellenspitze. Nun ist der Bundesliga-Aufstieg in greifbare Nähe gerückt – und die Mannschaft wirkte bei der 0:1-Niederlage in Rostock eingeschüchtert von der Kulisse und dem harten Einsteigen Hansas. Beginnt jetzt das große Zittern? Darüber hat das Abendblatt mit Professor Borwin Bandelow gesprochen. Der 70-Jährige, der an der Georg-August-Universität Göttingen lehrt, gilt als Deutschlands renommiertester Angstforscher und überdies als Erfinder des Ostfriesenwitzes.
Professor Bandelow, woher kommt die Angst vor potenziellen Erfolgen?
Borwin Bandelow In Bezug auf den Fußball muss man bedenken, dass Leistungssportlerinnen und -sportler wettbewerbsorientierte Menschen sind, die in ihrer Disziplin besser sein wollen als andere. Das ist extrem wichtig für sie. Daher kann sich, wenn ein gewisses Ergebnis in Aussicht steht, auch die Angst vor der Blamage einstellen. Diese Angst ist beim Sport umso ausgeprägter, da jeder nach Spielende sofort weiß, wer gewonnen und wer sich blamiert hat.
Liegt es darin begründet, dass die Mehrheit der Mannschaften gerne die Außenseiterrolle annimmt?
Manchmal kann es besser sein, nicht der Favorit zu sein, vor allem wenn der Erfolgsdruck massiv ist. Druck kann jedoch auch anspornen. Sich etwas zu überschätzen macht einen guten Spieler aus. Thomas Müller hat neulich einen Elfmeter verschossen. Da pellt er sich ein Ei drauf, weil er den Umgang mit gelegentlichen Niederlagen schon längst gelernt hat. Bei St. Paulis Spielern dürfte es anders ums Nervenkostüm bestellt sein
Kann Angst auch beflügeln?
Auf jeden Fall. Ohne Angst geht es nicht. Nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz korrelieren Angst und Produktivität in Form einer umgekehrten U-Kurve miteinander. Zu viel Angst lähmt. Wer aber gar keine Grundanspannung hat, bringt keine Leistung. Die beste Leistung bringt man bei einem mittleren Angstniveau.
Wie lässt sich im Sport gegen eine zu große Angst anarbeiten?
Menschen suchen sich in angstbesetzten Situationen gerne einen Anführer. Im Sport ist das zumeist der Trainer, weswegen wir so oft über ihn diskutieren. In meiner kleinen Band, den „Hot Docs“, brauchen wir keinen Dirigenten, da sollte man doch meinen, elf Mann bräuchten nicht zwingend einen Trainer. Brauchen sie aber. Der Trainer sollte nicht zu stark mit Angst als Mittel arbeiten, beispielsweise androhen, dass die Spieler bei einer Niederlage rausfliegen oder ihnen der Lamborghini weggenommen wird. Aber nur mit einem Kuschelkurs geht es auch nicht, es ist stets eine Gratwanderung.
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Welche simplen Maßnahmen können direkte Auswirkungen auf das Nervenkostüm der Spieler haben?
Auswechslungen können helfen. Vor allem, wenn es einen Joker als Geheimwaffe gibt, der schon häufiger getroffen hat. Seine tatsächliche Wirkung entfaltet er wahrscheinlich, weil er einfach frischer ist als die anderen. Aber es hilft auch seinen Mitspielern, zu glauben, dass nun wieder derjenige aufs Feld kommt, der es rausreißen wird.
Macht eine gute Mannschaft eine Mischung aus ängstlicheren und weniger ängstlichen Spielern aus?
Diese Mischung ergibt sich von selbst, da Angsttypen wie die Körpergröße normal verteilt unter der Bevölkerung sind. Es dürfte aber etwas sinnvoller sein, wenn der Stürmer zur Gruppe der weniger Ängstlichen gehört.
Inwiefern spielen Erwartungen und die Vergangenheit eine Rolle beim Auftreten von Ängsten im Sport? Der Hamburger SV beispielsweise droht den Aufstieg zum vierten Mal in Serie zu verpassen. St. Pauli hat etwas unerwartet die große Gelegenheit dazu, in die Bundesliga vorzudringen.
Dieses Problem sehe ich vor allem beim Hamburger SV als sehr real an. Es ist tragisch, dass eine Stadt wie Hamburg keinen Erstligisten hat. Es gab die guten alten Uwe-Seeler-Zeiten. Jungen Spielern wird nun abverlangt, den Verein wieder groß zu machen. Das kann eine sehr schwere Last sein, die einschüchternd wirkt.
Was empfehlen sie dem FC St. Pauli in den finalen sechs Partien, um das große Zittern zu vermeiden?
Ich würde als Verantwortlicher einen realistischen Blick auf die Chancen vermitteln. Niemand konnte einen Durchmarsch erwarten und kann das auch beim Saisonfinale nicht. Andererseits steht der Club ja nicht ohne Grund weit oben. Das Team sollte sich der bisherigen Leistungen bewusst sein. Das könnte zum richtigen Anspannungsgrad führen.
Eine Sache müssen wir abschließend noch klären: Sie gelten als Erfinder des Ostfriesenwitzes. Wie ist es dazu gekommen?
1968 habe ich begonnen, in unserer Schülerzeitung erstmals Ostfriesenwitze schriftlich niederzulegen, in Form von kleinen Geschichten mit Comics.
St. Paulis Trainer Timo Schultz ist Ostfriese. Kann dann überhaupt etwas schiefgehen für den Club im Saisonfinale?
Ostfriesen sind mutig, da sie sich immer schon des „Blanken Hans“ erwehren mussten. Das sind alles coole Burschen. Von daher stehen die Chancen für St. Pauli mit einem Ostfriesen als Trainer hervorragend.