Hamburg. Das 3:2 gegen den HSV war das logische Ergebnis einer konsequenten Entwicklung. Trainer Schultz frotzelt über Neuzugang Hartel.
Als Torsten Mattuschka kurz vor dem Beginn der neuen Zweitligasaison den FC St. Pauli zum Aufstiegskandidaten erhob und ihn auch noch vor dem HSV einstufte, fand St. Paulis Trainer Timo Schultz diese Einschätzung des Zweitligaexperten von Sky nur ganz bedingt erfreulich. „Es ist ja besser, als wenn uns alle als Absteiger sehen würden“, sagte Schultz ziemlich zähneknirschend.
Angesichts der Vielzahl an prominenten Clubs in dieser vermeintlich als „beste Zweiten Liga aller Zeiten“ gefeierten Spielklasse hätte es Schultz und den anderen sportlich Verantwortlichen gut in den Kram gepasst, weiter unter dem Radar zu fliegen und sich in aller Ruhe weiterzuentwickeln.
FC St. Pauli ist endgültig in aller Munde
Vier Pflichtspiele später ist es mit dieser ersehnten Ruhe allerdings ohnehin vorbei. Spätestens mit dem verdienten 3:2-Sieg im Stadtderby gegen den HSV und vor allem wegen des dort zelebrierten, über weite Strecken begeisternden Fußballs ist der FC St. Pauli in aller Munde.
Während andere als Aufstiegsanwärter gehandelte Teams wie Schalke 04, Werder Bremen, Hannover 96, Fortuna Düsseldorf, Relegations-Teilnehmer Holstein Kiel und eben nicht zuletzt der HSV bisher noch schwächeln, ist St. Pauli in der Liga mit sieben Punkten ungeschlagen und sogar im DFB-Pokal weitergekommen, was zuletzt deutlich seltener vorgekommen war als Siege gegen den HSV. „Es ist sicherlich ein gelungener Saisonstart“, resümierte Timo Schultz nach dem Derbysieg nüchtern.
Schultz: "Wir sollten nicht durchdrehen"
Der konkreten Frage, ob die Leistung beim Sieg über den HSV das Prädikat „aufstiegsreif“ verdient habe, wich Schultz dann aber doch aus. „Es war auf jeden Fall eine Leistung, die das Prädikat Derbysieg verdient hat. Um alles andere kümmere ich mich ab Montag“, sagte er und verwies auf die am Sonnabend anstehende „schwere Auswärtshürde“ beim SC Paderborn. „Wir sollten nicht durchdrehen. Ich habe zuletzt in Magdeburg, aber auch gegen den HSV viele Sachen gesehen, die wir einfach besser machen müssen, damit wir noch besser und erfolgreicher spielen“, sagte Schultz.
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Was er damit konkret meinte, gab er denn auch freimütig preis: „Gerade in den Phasen, in denen wir tief stehen, Angriffe aushalten müssen, ist es für den Gegner immer noch zu leicht, bis in die Box hineinzukommen. Und die Chancenverwertung bleibt bei uns immer ein Thema.“ Beim zweiten Punkt sei erwähnt, dass St. Pauli sowohl im Pokalspiel in Magdeburg (3:2) als auch gegen den HSV jeweils drei Treffer erzielen konnte. Und doch ist diese Analyse nicht falsch, denn diese St.-Pauli-Mannschaft des Jahres 2021 erspielt sich regelmäßig eine Vielzahl an Torchancen.
St. Pauli hat die Bilanz eines Aufsteigers
Nach drei Ligaspielen mag es ja gewagt sein, ein Team, das in den vergangenen Jahren selten über Liga-Mittelmaß hinausgekommen war, zum heißen Aufstiegskandidaten zu küren. Beim FC St. Pauli allerdings sollte zur Bewertung vor allem auch die Entwicklung seit dem Neustart im Januar berücksichtigt werden. Hier zeigt sich Erstaunliches. Mit Beginn des Auswärtssieges bei Hannover 96 – übrigens ebenfalls ein 3:2 – hat die Mannschaft in 22 Spielen 44 Punkte gesammelt – trotz der Schwächephase zum Ende der vergangenen Saison. Hochgerechnet auf eine komplette Saison ist das eindeutig die Bilanz eines Aufsteigers.
Dazu hat die Zweite Liga in den vergangenen Jahren zwei Beispiele geliefert, die dem FC St. Pauli durchaus als Vorbild dienen können. Sowohl Arminia Bielefeld als auch der VfL Bochum hatten jeweils vor der Saison, als sie Zweitligameister wurden, eine erfolgreiche Rückrunde hingelegt und waren mit einer eingespielten Mannschaft und demselben Trainer aus dem Sommer gekommen. Auch St. Pauli hatte in dieser Sommerpause keinen gravierenden personellen Umbruch mehr nötig.
Schultz frotzelt über Neuzugang Hartel
Sogar der Verlust der ausgeliehenen Leistungsträger Rodrigo Zalazar (jetzt Schalke) und Omar Marmoush (Wolfsburg) konnte offenbar kompensiert werden. Für die Zalazar-Position links in der Mittelfeldraute lotste St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann gerade erst Marcel Hartel ans Millerntor. Der 25-Jährige bot gegen den HSV auf Anhieb eine Top-Vorstellung und war am Freitagabend gleich laufstärkster Spieler (12,51 km) auf dem Platz.
„Jeder hat heute gesehen, warum wir ihn verpflichtet haben. Er ist extrem laufstark, technisch unfassbar gut und extrem spielfreudig. Er verkörpert genau das, was wir auf der Rautenposition haben wollen“, lobte Schultz und frotzelte nur über Hartels Schüsse über das Tor: „Ich weiß nicht, ob die Tore in Bielefeld höher sind.“
Anstelle des flinken und quirligen Marmoush setzt Schultz als Partner des gesetzten Sturmführers Guido Burgstaller jetzt mit Simon Makienok auf einen ganz anderen Spielertypen, was allerdings auch erstaunlich gut funktioniert, wie Makienoks Doppelpack gegen den HSV bewies.
St. Pauli: Schultz ist "Fan" der Mannschaft
Im Eindruck des Derbysiegs geriet der grundsätzlich so sachliche und selbstkritische Schultz aber auch noch kurz ins Schwärmen: „Ich bin wirklich Fan dieser Mannschaft. Ich glaube, jedem, der ins Stadion kommt, macht es Spaß zuzugucken. Wir zocken, wir spielen, wir setzen den Gegner unter Druck, wir gehen Risiko ein, werden auch mal richtig auf den Arsch kriegen. Aber die Art und Weise, wie wir Fußball spielen, soll bitte immer so bleiben.“
Bei allem Ehrgeiz hat Timo Schultz auch im Blick, dass überraschende Belohnungen auch einen leistungsfördernden Effekt haben können. So setzte er nach dem Derbysieg das Training für Sonnabend ab und schickte seine Spieler zum Feiern. „Die sollen mal richtig die Sau rauslassen. Sofern das alles corona-konform bleibt, dürfen sie sich mal richtig gehen lassen. Das ist kein Befehl, aber eine fette Bitte“, sagte er. Wer wollte dem schon widersprechen.