Hamburg. Nach 17 Jahren nimmt der Publikumsliebling Abschied als Spieler des FC St. Pauli und wird in neuer Funktion bleiben.

Die Szene passte perfekt zu einem, der gerade dabei ist, Abschied vom aktiven Profifußball zu nehmen. Ins Gespräch mit Co-Trainer André Trulsen vertieft, verließ Jan-Philipp Kalla am Mittwochnachmittag gemächlichen Schrittes den Trainingsplatz. Die beiden kennen sich seit gefühlt ewigen Zeiten. Der heute 55 Jahre alte Trulsen war für ein Jahr Cheftrainer des FC St. Pauli, als der 22 Jahre jüngere Kalla aus der U-23-Mannschaft in den Profikader des Millerntor-Clubs aufstieg. Das war im Sommer 2007.

Sogar noch vier Jahre früher kam Kalla vom HSV zum FC St. Pauli und ist, im Gegensatz zu Trulsen, nie wieder weggegangen. Das soll auch jetzt nicht geschehen, doch mit dem aktiven Fußball für die Braun-Weißen ist in ein paar Tagen Schluss – nach dann 17 Jahren. Am vergangenen Sonntag verabschiedete er sich mit dem 1:1 gegen Jahn Regensburg vom Millerntor-Stadion – zur seiner großen Freude in einem verschwitzten Trikot, denn Trainer Jos Luhukay hatte den gebürtigen Hamburger gut zehn Minuten vor dem Ende eingewechselt.

„Ich glaube, es ist schwierig, das Ganze zu verarbeiten. Es ist ja nicht nur dieses eine Spiel. Man blickt zurück auf die ganzen 17 Jahre. Da werde ich noch ein paar mehr Tage brauchen als nur die zwei freien Tage, die wir jetzt hatten“, sagte Kalla am Mittwoch. Vor dem Training hatte sich Kalla Zeit genommen, in einer Telefonkonferenz mit Hamburger Medienvertretern ausführlich über seine lange Karriere und die Zukunftsplanungen zu sprechen. „Ich habe es in den beiden vergangenen Tagen versucht zu vermeiden, mein Handy in der Hand zu haben, um so ein bisschen Abstand zu bekommen“, verriet er.

Kalla ist bis zum letzten Tag mit Herzblut dabei

Die Gewissheit über den immer näher kommenden Abschied hätte ihn schon seit geraumer Zeit erfasst, erzählt Kalla weiter: „In den letzten Tagen und Wochen habe schon im Auto auf dem Weg zum Training gesessen und mir Gedanken gemacht, dass dieser Arbeitsweg nicht mehr allzu lange zu meinem Tagesablauf gehören wird.“ Der Defensiv-Allrounder stellt aber auch klar: „Ich bin bis zum letzten Tag, bis zum Abpfiff am Sonntag mit Ehrgeiz, Herzblut und Vollgas dabei.“ Am Sonntag (15.30 Uhr) beendet St. Pauli beim SV Wehen Wiesbaden die Zweitligasaison, ein Sieg könnte noch den Sprung vom 14. auf dem elften Tabellenplatz bringen, was zwar etwas versöhnlicher aussähe, aber die grundsätzliche Enttäuschung über die mal wieder verkorkste Spielzeit nicht wird übertünchen können.

Jan-Philipp Kalla zu Beginn der Aufstiegssaison 2009/10.
Jan-Philipp Kalla zu Beginn der Aufstiegssaison 2009/10. © Witters

Frustrierend ist für alle Beteiligten auch, dass Kallas letztes Heimspiel aufgrund der Coronaregeln vor nahezu leeren Rängen stattfinden musste. „Das war schon eine ganz andere Atmosphäre als sonst“, bedauert Kalla. Nach dem Abpfiff bildeten Mitspieler und Betreuer einen Kreis auf dem Rasen und feierten „Schnecke“ Kalla. Über das, was danach in der Kabine geschah, berichtete Kalla: „Es wurde noch das eine oder andere Liedchen gesungen, und es gab noch ein Gruppenfoto.“ Dazu habe er mit seinen Kollegen Marvin Knoll und Johannes Flum noch die Trikots getauscht. „Das mache ich im Spiel selten mit meinen Gegenspielern. Knolli und Flumi sind gute Jungs, mit denen ich mich sehr gut verstanden habe.“

Abstandsregeln wurden bei Feier nicht eingehalten

Trotz der gespenstigen Atmosphäre, so wurde am Mittwoch bekannt, ist bei den kleinen Feierlichkeiten nicht alles den aktuellen Vorschriften entsprechend abgelaufen. „Im Eifer der Emotionen rund um Schneckes Abschied wurden nach dem Spiel die allgemein gültigen Abstandsregeln nicht eingehalten. Dies ist aber wichtig, weil Corona noch nicht vorbei ist. Deshalb haben wir einige Inhalte gelöscht“, verbreitete der FC St. Pauli am Mittwoch über die sozialen Netzwerke. So sind jetzt die entsprechenden Fotos und Videos nicht mehr zu finden. Offen ist, ob noch eine Bestrafung erfolgt.

Sicher ist, dass alle wieder normale Bedingungen herbeisehnen, in denen auch freundschaftliche Umarmungen erlaubt sind. „Der Verein legt großen Wert darauf, dass ich den Abschied bekommen kann, der mir nach 17 Jahren bei St. Pauli zusteht. Das würde sich ausdrücken in einem Abschiedsspiel zu einem Zeitpunkt, wenn die Stadien wieder voll sein können“, berichtete Kalla über die Planungen.

Kallas Ex-Mitspieler und Torwart Philipp Heerwagen schrieb auf Twitter: „Ich hoffe, es kommt der Tag, an dem man diesen Spieler, Menschenfreund, Herzensmensch, Herzensfußballer, Fußballgott und echten St. Paulianer einen würdigen Abschied bereiten kann. Und ich hoffe, ich kann mit 29.545 anderen zusammenstehen und applaudieren!“

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Liebend gern hätte Jan-Philipp Kalla seine aktive Profikarriere noch mindestens ein Jahr fortgesetzt. Doch schon früh machte ihm Sportchef Andreas Bornemann klar, ihm keinen Kaderplatz mehr geben zu wollen. Gleichzeitig aber wurde ihm signalisiert, dass der Verein an einer weiteren Zusammenarbeit in anderer Funktion sehr interessiert ist. Es folgten Gespräche mit Präsident Oke Göttlich. Eine Entscheidung über die konkrete Tätigkeit von August oder September an steht noch aus. „Wahrscheinlich wird es so sein, dass mein Arbeitsplatz eher im Millerntor-Stadion als an der Kollau ist“, sagte Kalla. Am ehesten scheint eine Tätigkeit mit Kontakten in die Fanszene sowie zu Sponsoren denkbar, zumal er schon als Spieler ein sehr guter Vertreter der Werte des Clubs war.

Aber gab es in den 17 Jahren bei St. Pauli nicht doch einmal einen Moment, als ein Wechsel zu einem anderen Verein möglich war? Ausgerechnet Holger Stanislawski legte ihm als Trainer nach dem Aufstieg 2010 nahe, sich für ein Jahr verleihen zu lassen, weil die Wahrscheinlichkeit auf Einsatzzeiten in der Bundesliga relativ gering seien. „Ich habe mich tatsächlich umgeschaut und hatte sogar ein Probetraining beim FSV Frankfurt. Dann aber habe ich mich entschieden, mich durchbeißen zu wollen“, erzählt er. „Am Ende bin ich auf fünf Bundesligaeinsätze gekommen. Ich hätte es bereut, wenn ich nicht hier geblieben wäre. Und im Rückblick sieht es auch viel schöner aus, 17 Jahre beim selben Verein geblieben zu sein.“ Wohl wahr.