Hamburg. St. Paulis Fanclubsprecherrat akzeptiert aus finanziellen Gründen Geisterspiele, lehnt aber Beschallung der Stadien ab.

Was ist für einen aktiven Fußballfan, der jedes Heimspiel seines Lieblingsclubs im Stadion verfolgt, dazu häufig noch Reisen zu den Auswärtsspielen auf sich nimmt, eigentlich schwerer zu ertragen? Gar keine Spiele wie in den vergangenen nun schon fast acht Wochen? Oder Spiele seiner Mannschaft, von denen er und alle anderen Zuschauer ausgeschlossen werden?

Die Antwort kann jeder Fan nur ganz persönlich für sich beantworten, je nachdem, wie sehr er sich dafür begeistern kann, Spiele – im besten Fall live – auf dem Fernsehschirm zu verfolgen. Erstmals äußert sich jetzt im Abendblatt Tilman M. Brauns vom Fanclubsprecherrat des FC St. Pauli zur Haltung der aktiven Fanszene zu den geplanten Geisterspielen, mithilfe derer die Saison in der Ersten und Zweiten Liga zu Ende gespielt werden soll.

Problematik der Geisterspiele aus zwei Sichtweisen betrachten

„Wir sind uns einig darüber, dass die Problematik der Geisterspiele differenziert aus zwei Sichtweisen zu betrachten ist“, sagt Brauns. Und das ist, wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs herausstellen soll, keine Floskel. „Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass Fußball als Wettbewerb nur mit Fans auszutragen ist. Leere Stadien sind absurd. Sie sind immer zu groß“, sagt er. „Auch außerhalb von Corona-Zeiten halten wir es für sinnvoll, keine überdimensionalen Stadien zu bauen, deren Stühle schnell leer bleiben. Je dichter ein Stadion besetzt ist, desto besser ist die Stimmung.“

Der im internationalen und nationalen Profifußball offenkundige Gigantismus ist bei den St.-Pauli-Fans ein großes Thema – gerade in dieser Corona-Krise, die vieles von dem, was falsch läuft, aufgedeckt hat. „Über allem steht in dieser Situation die Frage, wie die Uferlosigkeit der Fußball-Industrie überdacht und verändert werden kann. Es gibt bei uns eine klare Mehrheit, die fordert, das ganze System Profifußball zu überdenken. Auch in Hinblick auf Verbandsstruktur, Zusammenspiel mit den Amateurbereichen oder der Eventisierung“, sagt Brauns. Ähnlich hatte sich zuvor St. Paulis Technischer Direktor Ewald Lienen im Abendblatt geäußert. Auch dessen Forderung nach einer Gehalts- und Ablösebegrenzung für Spieler teilen die organisierten St.-Pauli-Anhänger.

Massives Ungleichgewicht zwischen den Gehältern

Brauns geht noch weiter: „Es herrscht innerhalb der Proficlubs ein massives Ungleichgewicht zwischen den Gehältern für die Spieler und denen der Geschäftsstellenmitarbeiter sowie noch krasser den Löhnen für Volontäre, Cateringmitarbeiter oder Sicherheitspersonal, die oft gerade einmal nur den Mindestlohn erhalten. Selbst wenn jetzt Spieler auf einen Teil ihrer Gehälter verzichten, geht die Schere zu den Mitarbeitern, die jetzt in Kurzarbeit sind, immer noch weit auseinander.“

Dann aber kommt Brauns, der bei St. Paulis Spielen auch einer der Reporter des Fan-Radios ist, zur zweiten Sichtweise im Hinblick auf die geplanten Geisterspiele. „Wir sehen auch die unternehmerische Verantwortung eines Profivereins. Wie jeder andere Betrieb auch versuchen die Proficlubs, ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen. Sie müssen sich mit diesem Anliegen der Bevölkerung stellen“, sagt er. Dabei komme es auf das Feingefühl der Präsidien und Geschäftsführer an. „Es ist ihr Job, das Bestmögliche für ihren Verein zu tun. Unser Präsident Oke Göttlich hat ja betont, wie wichtig das Arbeitsrecht und die vertraglichen Verpflichtungen sind. Wir sehen es positiv, dass die DFL keine staatlichen Hilfen will, und auch die Tests für die Spieler werden ja nicht von Steuergeldern bezahlt.“

Gewalttätige Auseinandersetzungen befürchtet

Wie sieht nun für St. Paulis Fans der Kompromiss zwischen der Absurdität von Geisterspielen und der wirtschaftlichen Notwendigkeit aus? „Für uns ist es wichtig, dass es bei den nun bevorstehenden Geisterspielen nicht dazu kommt, die leeren Stadien künstlich mit Leben zu füllen. Wir lehnen es ab, dass es in den leeren Betonschüsseln irgendwelche Fanbanner gibt oder die Ränge bunt gestaltet werden“, sagt Brauns. „Das leere Stadion soll in seiner ganzen Trübheit gezeigt und nicht verfälscht werden.“ Dasselbe gelte für die Beschallung. „Gesänge, Jubel oder Anfeuerung aus dem Lautsprecher gehen gar nicht. Wir lehnen auch die Einlauf- und Torsongs ab – also beim FC St. Pauli Hell’s Bells und Song 2. Es muss allen klar werden, dass solche Spiele nur ein Wettbewerb für die Vertragspartner sind“, stellt er klar. Ob diese Forderung erfüllt wird, bleibt abzuwarten.

Bei den Argumenten gegen Geisterspiele ist derzeit, insbesondere von Polizeigewerkschaftern, auch zu hören, die Gefahr sei zu groß, dass sich während der Spiele Fangruppen in der Umgebung der Stadien versammeln und möglicherweise gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Anhängern des gegnerischen Clubs suchen könnten. „Wir sind uns einig, dass wir den Spieltag nicht aktiv begleiten wollen und daher zu Hause bleiben werden. Wir wollen nicht wegen eines Fußballspiels uns selbst und andere in Gefahr bringen, solange die Kontaktbeschränkungen nicht aufgehoben sind“, widerspricht Brauns den Befürchtungen. „Die Geisterspiele in tristen, leeren und leisen Stadien sollen ein geschichtliches Dokument für diese Zeit sein und auch zeigen, dass Fußballspiele ohne Fans und ohne Choreos komplett anders sind“, sagt Brauns.

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Bleibt die Frage, wie es weitergehen soll, wenn die Saison abgeschlossen ist. Wann und unter welchen Umständen soll die Spielzeit 2020/21 beginnen? Die meisten Experten können sich derzeit nicht vorstellen, dass in diesem Kalenderjahr noch Veranstaltungen in prall gefüllten Stadien mit Zehntausenden von Zuschauern stattfinden können. Müssen also auch die St.-Pauli-Fans in der kommenden Saison weiter erst mal Geisterspiele ertragen?

„Wegen der vertraglichen Verpflichtungen können wir notgedrungen damit leben, dass die Saison jetzt ohne Fans zu Ende gebracht werden soll. Die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der kommenden Saison darf nach unserer Meinung aber erst erfolgen, wenn die Behörden wieder Zuschauer in die Stadien lassen. Eine halbe Saison mit Geisterspielen vom Spätsommer bis ins nächste Jahr hinein lehnen wir ganz klar ab“, stellt Tilman M. Brauns klar.

Erst am Wochenende hatte sich Fifa-Vizepräsident Victor Montagliani (Kanada) dafür ausgesprochen, dass die europäischen Ligen ihre Saison ans Kalenderjahr anpassen. Bei allen Vorbehalten gegen Funktionäre des Fußball-Weltverbandes könnten sich die St.-Pauli-Fans mit dieser Idee anfreunden. Allerdings hat Montagliani mit seinem Vorschlag weniger die Corona-Beschränkungen als mehr die umstrittene Fußball-WM im Dezember 2022 im Blick. Aber das ist eine andere Geschichte.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden