Hamburg. Ewald Lienen fordert vom Profifußball und von der Politik weitreichende Konsequenzen aus der Coronakrise.

Schon als junger Fußballprofi in den 1970er-Jahren hat Ewald Lienen über den Tellerrand dieses Metiers hinausgeschaut und sich politisch engagiert. Auch jetzt denkt der Technische Direktor des FC St. Pauli in der Coronakrise über grundlegende, gesellschaftspolitische Zusammenhänge und Konsequenzen auch für den Profifußball nach. Im Interview mit dem Abendblatt prangert der 66-Jährige die ungerechte Vermögensverteilung ebenso an wie die Tatsache, dass manchen Proficlubs trotz Rekordeinnahmen das Aus droht.

Hamburger Abendblatt: Herr Lienen, wie gestaltet sich derzeit Ihr Alltag in der Coronakrise. Vieles von dem, was sonst Ihr Arbeitsinhalt ist, ist ja derzeit nicht möglich.

Ewald Lienen: Es ist klar, dass ich die Veranstaltungen, die ich sonst wahrnehme, nicht mehr machen kann. Es waren da noch einige sehr schöne Dinge geplant. Meine vorerst letzte Veranstaltung war am 6. März in Detmold. Von dort bin ich dann nach Mönchengladbach zu meiner Familie gefahren. Ich war dort dann ein paar Tage krank, nach einer Woche aber wiederhergestellt. Da ich mich dort in der Nähe zum Risikogebiet rund um Heinsberg befand, hätte ich mich also, wenn ich zurück nach Hamburg gefahren wäre, erst einmal 14 Tage in Quarantäne begeben müssen. Kurz danach wurde auch beim FC St. Pauli auf Homeoffice umgestellt. So bin ich also jetzt noch in Mönchengladbach und spreche viel mit den Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Video- und Telefonkonferenzen. Es hätte wenig Sinn ergeben, nach Hamburg zu fahren.

Womit sind Sie im Moment konkret befasst?

Lienen: Ich komme in der Marketingabteilung immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, nach außen zu treten, also kurze Videos zu machen oder ganze Sendungen wie zuletzt FC St. Pauli TV Live mit Mike Nöcker. Auch mit unseren Partnern wie der Techniker Krankenkasse setzen wir einiges um. Außerdem bin ich im engen Kontakt mit unserer CSR-Abteilung (CSR = Corporate Social Responsibility, unternehmerische Gesellschaftsverantwortung, die Red.). Durch die fehlenden Spiele fällt das gespendete Becherpfand weg, das zur Hälfte an unsere soziale Plattform Kiezhelden, zur anderen an Viva con Agua geht. Mit dem Kiezhelden-Spendenbeirat rufe ich daher zu virtuellen Becherspenden auf. Dazu erhalte ich viele Anfragen für Podcasts und Interviews. Ansonsten ist die Zeit prädestiniert, zu lesen und sich weiterzubilden.

Was sind dabei die wichtigsten Inhalte?

Lienen: Es sind im Wesentlichen die Themen, mit denen ich seit meinem Aufgabenwechsel im Club schon seit ein paar Jahren beschäftigt bin. Dabei lese ich nicht nur viele Fachbücher, sondern schaue mir auch viele TV-Beiträge und Vorträge von Kongressen aus der jüngeren Vergangenheit an. Es geht dabei in erster
Linie um Nachhaltigkeit, um Natur- und Klimaschutz, aber auch um Modelle von Kreislaufwirtschaft und um Verteilungsgerechtigkeit. Natürlich interessiert mich auch, wie die Entstehung und Verbreitung der für Menschen gefährlichen Viren mit unserer Art zu leben und in die Natur einzugreifen zusammenhängt.

Wie bewerten Sie die Problematik, dass derzeit die Maßnahmen zum Erhalt und Rettung von Menschenleben einhergehen mit massiven wirtschaftlichen Problemen von Firmen und auch Einzelpersonen?

Lienen: Diese Krise zeigt uns auch, dass Millionen Menschen nur einen Gehaltsscheck von Not entfernt sind. Das muss uns die Augen öffnen. Bei aller Notwendigkeit der Maßnahmen zur Verlangsamung der Virus-Ausbreitung muss auch das wirtschaftliche Überleben vieler Menschen gesichert werden. Hier bedarf es intensiver Überlegungen, diese Problematik zu lösen. Bei allem dürfen wir nicht vergessen, dass wir die Klimakrise in den Griff bekommen müssen. Darüber redet im Moment nur keiner, weil wir gerade eine konkrete, andere Bedrohungslage haben.

Welche positiven Aspekte nehmen Sie in dieser Krise wahr?

Lienen: Ich finde es beeindruckend, wie viel Solidarität in der Gesellschaft zu sehen ist, wie rücksichtsvoll sich die allermeisten verhalten und welche Kreativität viele entwickeln. Undiszipliniertheiten sind insgesamt doch sehr selten. Wir müssen aber auch intensiv darüber nachdenken, wie es wirtschaftlich für viele Menschen weitergehen soll. Damit meine ich einzelne Arbeitnehmer, aber auch Tausende von kleinen und mittleren Unternehmen, die jetzt massive Umsatzeinbußen haben. Das wird eine große Aufgabe für die Politik und die ganze Gesellschaft.

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Wird sich diese Solidarität und Rücksichtnahme erhalten lassen, wenn das normale Leben wieder Einzug gehalten hat?

Lienen: Zuerst einmal müssen wir zur Normalität zurückkehren, aus meiner Sicht muss das dann aber eine veränderte Normalität sein. Wenn ich jetzt sehe, wie alle Politiker über die Parteigrenzen hinweg lösungsorientiert zusammenarbeiten, ohne auf mögliche Wahlergebnisse zu schielen, dann ist das etwas, was ich mir auch für die Zukunft nach der Coronakrise erhoffe. Unsere Politiker sind nicht dazu da, einfach nur wiedergewählt zu werden. Die Aufgabe ist vielmehr, die großen Probleme, die wir uns selber geschaffen haben, gemeinsam und solidarisch in den Griff zu bekommen. Damit meine ich, wie wir über Jahrzehnte die Natur behandelt und eine schreiende Ungerechtigkeit in der Einkommens- und Vermögensverteilung zugelassen haben. Auch die Verbreitung eines solchen Virus wie jetzt hängt womöglich auch damit zusammen, wie wir mit der Natur umgegangen sind und auf Teufel komm raus produziert haben. Wenn man sich vor Augen führt, wie viele Epidemien wir in den vergangenen Jahren hatten, wie Vogelgrippe, Schweinegrippe, HIV, Ebola und jetzt das neue Corona­virus, dann ist das schon auffällig. Es ist erwiesen, dass das seine Ursache auch im fortschreitenden Artensterben und der Zerstörung von Ökosystemen hat und darin, dass wir Menschen so viele Wildtiere essen und mit ihnen handeln.

Wird im Profifußball die aktuelle Krise zu einem Umdenken dahingehend führen, dass die Clubs nicht immer nur neue Umsatzrekorde aufstellen wollen, um immer mehr Geld ausgeben zu können?

Lienen: Der Profifußball ist schon immer ein Teil unserer Wirtschaft gewesen. Da gibt es eine ganz enge Vernetzung. Im Grunde greifen im Profifußball keine anderen Mechanismen als in der sonstigen Wirtschaft. Zum Glück haben viele Unternehmen angefangen umzudenken, was etwa Umweltschutz, Abfallvermeidung und Nachhaltigkeit in jeglicher Hinsicht angeht. Das erfahre ich selbst, wenn ich bei meinen Vorträgen in Firmen mit Führungskräften spreche. Wir beim FC St. Pauli haben ja auch solche Maßnahmen ergriffen. Grundsätzlich finde ich es aber erschreckend, dass bei dem vielen Geld, das im Profifußball steckt, schon innerhalb weniger Monate etliche Clubs vor dem Aus stehen können.

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Was schlagen Sie vor, dies zu verhindern?

Lienen: Wir müssen über Gehaltsobergrenzen, also einen Salary Cap, ebenso nachdenken wie über eine Begrenzung der Ab­lösesummen. Wie soll man denn künftig Krisen wie jetzt überstehen, wenn jeder Club Unsummen an Gehältern für seine Spieler ausgibt. Ich rede da nicht von der Zweiten Liga. Es muss doch nicht sein, dass ein Profi nur zwei Jahre spielen muss, um danach für sein ganzes Leben ausgesorgt zu haben. Wenn er deutlich weniger bekommt, hat er immer noch viel, viel mehr als der durchschnittliche Arbeitnehmer. Ich glaube schon, dass die momentane Situation für viele ein Anlass ist, darüber nachzudenken, wie es mit dem Profifußball weitergehen soll.

Was ist für Sie dabei besonders wichtig?

Lienen: Es sind in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Traditionsvereine durch diesen ruinösen Wettbewerb in Existenznöte geraten und an den Rand gedrängt worden. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die vielen kleinen Vereine am Leben gehalten werden, die eine ungeheuer große Bedeutung für unsere Gesellschaft, für die Gesundheit und die Entwicklung junger Menschen haben. Viele dieser Vereine krebsen heute am Existenzminimum. Ich plädiere für ein System, in dem durch eine gewisse Nivellierung der Gelder nicht nur alle Profiver­eine überleben, sondern auch genügend Geld vorhanden ist, um die kleinen Vereine, die eine ungeheuer wertvolle Arbeit leisten, zu unterstützen.

Die Profimannschaften dürfen wieder in Kleingruppen trainieren, während die Sportanlagen für die Bevölkerung und Spielplätze für Kinder weiter gesperrt sind. Sehen Sie eine Gefahr, dass der Profifußball als zu Unrecht privilegiert betrachtet wird?

Lienen: Es ist sicherlich ein schmaler Grat. Aber der Profifußball ist zumindest in Europa eine der wenigen Sportarten, die Gelder auch ohne Zuschauer im Stadion generieren kann. Ich weiß nicht, ob jemandem damit geholfen ist, wenn der Profifußball jetzt darauf verzichtet, wieder zu trainieren, zumal es bei einer Wiederaufnahme des Spielbetriebs auch um die Sicherstellung von Zigtausenden Arbeitsplätzen und Existenzen geht. Unter der Voraussetzung, dass es aus gesundheit­licher und organisatorischer Sicht möglich ist, Geisterspiele auszutragen, können diese Spiele für die Menschen eine willkommene Abwechslung sein. Diese Wirkung sollte man in dieser bedrückenden Situation nicht unterschätzen.

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