Hamburg. St. Paulis Präsident und der HSV-Vorstandschef über Geld, Liebe und das Abhandenkommen der Zurechnungsfähigkeit.

Der Treffpunkt: Mitten in der Stadt, trotzdem aber neutrales Terrain. Das Abendblatt bat HSV-Vorstandschef Bernd Hoffmann und St. Paulis Präsidenten Oke Göttlich vor dem ersten Derby seit sieben Jahren an diesem Sonntag (13.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) zum Gipfeltreffen – im siebten Stock der Abendblatt-Redaktion. Göttlich, der mit dem Fahrrad an den Großen Burstah kam, war auf die Minute pünktlich. Hoffmann war trotz längerer Parkplatzsuche sogar schon etwas früher vor Ort.

Herr Göttlich, 2011 ließ der FC St. Pauli vor dem Derby T-Shirts mit der Aufschrift "Derbysieger" drucken. Haben Sie auch in diesem Jahr schon einen Druckauftrag erteilt?

Oke Göttlich: Mir ist keiner bekannt. Und ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr so genau an 2011. Nach dem Spiel war ich nicht mehr wirklich zurechnungsfähig. (lacht)

Und wie ist es mit Ihnen, Herr Hoffmann? "Stadtmeisterbesieger" vielleicht?

Bernd Hoffmann: Gedanken darüber machen wir uns dann nach dem Spiel, versprochen!

Wie geht's denn aus am Sonntag?

Göttlich: Das Spiel ist von besonderer Bedeutung, alle wollen den Derbysieg. Angesichts der Tatsachen, die rundherum auf den Straßen passieren, relativiert sich die positive Anspannung. Wir tun alles dafür, dass es nur auf dem Platz zur Sache geht und um jeden Ball gekämpft wird.

Hoffmann: Der Herr Kollege hat recht. Aber ein emotionaleres Spiel mit mehr Vorfreude gibt es nicht für die Fans. Es findet schließlich in diesem Jahrtausend erst zum dritten Mal statt.

Was ist für Sie beide noch eine gesunde Rivalität - wo liegt die Grenze?

Göttlich: Jegliche Art des gegenseitigen Frotzelns kann und muss man verknusen. Problematisch wird es aber, wo offen zu Gewalt aufgerufen wird. Das Problem ist nur, dass diese Themen schwierig abzugrenzen sind. Ist „doofer DFB“, „Scheiß HSV“ oder „Scheiß St. Pauli“ eine ahndungswürdige Beleidigung? Ich würde sagen: nein. Aber was in den vergangenen zwei Jahren in Hamburg passiert ist, liegt jenseits der Grenze des Erträglichen. Wir reden hier ja nicht von G20, obwohl wir nicht mehr weit davon entfernt sind, was an Maßnahmen überlegt wird. Und gerade in unserem Stadtteil sind bei vielen die Bilder aus dem Sommer 2017 nicht vergessen. Allein deshalb wäre Abrüstung auf allen Seiten angesagt.

Wofür plädieren Sie?

Göttlich: Es freut mich schon mal, dass sich sowohl Spieler als auch Fans in Blogs öffentlich zum Wertekanon des FC St. Pauli bekannt haben und die sich seit ein-zwei Jahren hochschaukelnde Gewaltspirale klar und mehrheitlich ablehnen. Das ist teils übelster, hinterhältigster Fanatismus. Und um diesem vom peinlichen Pimmelfechten zu teilweise personengefährdeten ausgearteten Hooliganismus entgegenzutreten, müssen wir, die in der Verantwortung stehen, in Absprache mit den Behörden den öffentlichen Raum schützen, so dass jeder in sportlichrivalisierender Vorfreude zum Derby gehen kann.

Hoffmann: Deswegen ist es wichtig, dass wir die gemeinsamen Gespräche mit Vertretern beider Clubs und der Polizei völlig transparent in völliger Offenheit geführt haben. Am Ende, das darf man nicht vergessen, geht es um Sport. Und Derbys um eine sportliche Krone hat es seit Jahrhunderten gegeben. Ob das Pferderennen in Siena, das Ruderderby von Oxford und Cambridge. Im Fußball der BVB gegen Schalke. Oder HSV und Pauli.

Göttlich: Sankt Pauli bitte.

Hoffmann: Sankt Pauli. So viel Zeit muss sein. Diese Auseinandersetzungen sind die emotionalen Spitzen in unserem Sport. Sie dürfen nicht von Hooligans geentert werden.

Warum sind seit 2003 Freundschaftsspiele nicht mehr möglich?

Göttlich: Es gab mal Gespräche, da waren Bernd Hoffmann und Corny Littmann im Amt. Tatsächlich wären die Kosten für die Sicherheit höher als jeder Benefizcharakter. Da muss man sich fragen: Brauchen wir diesen Stress, die Behörden als auch die Vereine, wirklich?

Kann man die eigenen Fans nicht ein wenig mehr in die Pflicht nehmen? Warum ist es in Zeiten von Chemnitz und Köthen unmöglich, ein gemeinsames Zeichen zu setzen?

Göttlich: Das ist eine sehr berechtigte Frage. Es ist doch total absurd, sich aufgrund von braun-weiß oder blau-weiß in so einer gesellschaftlichen Phase auf die Glocke zu hauen. Vor ein paar Jahren haben Ultras beider Clubs mal genau so ein Zeichen gesetzt. Davon ist aber leider nicht viel übrig geblieben. Dabei haben wir doch gerade ganz andere Themen, als einen HSVer doof zu finden.

Hoffmann: Kleine Anmerkung, Oke: Blau-weiß-schwarz bitte.

Göttlich: Okay, Herr Hoffmann. Blau-weiß-schwarz. Und Braun-Weiß - mit ein bisschen Rot drin.

Duzen oder Siezen Sie sich eigentlich? Wirklich einig scheinen Sie sich ja nicht zu sein.

Hoffmann: Duzen natürlich. Wir sind doch Kollegen.

Göttlich: Ist mir im Eifer des Gefechts ein Sie rausgerutscht?

Mal sehen, ob Sie beim Du bleiben, wenn wir zum wirtschaftlichen Teil des Gesprächs kommen. Können Sie verstehen, Herr Hoffmann, wenn St. Pauli angesichts der Verteilung der TV-Gelder von einem unfairen Wettbewerb spricht?

Hoffmann: Die Verteilung der TV-Gelder muss man in einem größeren Zusammenhang stellen. Es gibt zwischen der Ersten und Zweiten Liga, noch viel mehr zur Dritten Liga, völlig unterschiedliche Kostenstrukturen. Um hier den Absturz ein Stück weit abzufedern, ist ein wirtschaftlicher Fallschirm über die Verteilung der TV-Gelder zugunsten der Absteiger nachvollziehbar. Uns hilft diese Verteilung in dieser Saison, deshalb werden Sie verstehen, dass ich das nicht schlechtrede. Wobei ich zugebe, dass große Teile der Probleme, die sich mit einem sportlichen Abstieg auf der wirtschaftlichen Seite ergeben, beim HSV hausgemacht sind. Und die wollen wir niemand anderem in die Schuhe schieben.

Ist St. Pauli wirtschaftlich ein Vorbild?

Hoffmann: Also soweit wollen wir bei aller Wertschätzung nicht gehen. Wir gehen unseren eigenen Weg mit unserem eigenen Tempo. Wir sind, glaube ich, auf einem ordentlichen Weg, den Patienten HSV aus der Intensivstation zu führen. Diese Phase hat der FC St. Pauli vor einigen Jahren hinter sich gebracht.

Herr Göttlich, wären Sie dafür, die Verteilung der TV-Gelder neu zu strukturieren?

Göttlich: Die Zweite Liga tut sehr gut daran, an einem solidarischen Modell festzuhalten. Das Zugpferd in Sachen TV-Erlöse ist die 1.Bundesliga. Der Verteilungsfaktor, der grob bei 80:20 zwischen Liga 1 und 2 liegt, muss mindestens beibehalten werden. Im Kern haben viele noch nicht verstanden, dass wir ein gleichgelagertes Interesse haben: Wie bekommen wir wieder Spannung in die Liga um bei steigendem Interesse an anderen Medieninhalten wie esports usw. nicht an Attraktivität zu verlieren.

Dafür muss der Verteilungsschlüssel die Integrität des Wettbewerbs und damit die Spannung in den Ligen schützen. Wie sollen wir denn höhere Preise bei Reduzierung der Attraktivität erzielen? Angesichts der Reformen und Wahlen, die bei der DFL anstehen, sollten mal klare Antworten und Inhalte für die wichtigsten strategischen Fragen entworfen werden. Wie stehen die designierten starken Personen des deutschen Fußballs zu Themen wie Auf- und Abstieg, Play-offs, Relegation, Erhalt der Attraktivität der Ligen, einer angemessenen Verteilung von Geld und den demokratisch gewünschten Erhalt von 50+1?

80:20 - Widerrede oder Beifall?

Hoffmann: Dass wir eine solidarische Verteilung haben müssen, ist unstrittig. Die Zweite Liga profitiert natürlich auch von der Lokomotive Erste Liga. Dort sind auch die großen Hausaufgaben zu erledigen, das hat Oke schon richtig gesagt. Vor allem die Verteilung der TV-Gelder in der Ersten Liga hat zu einer solchen Disbalance geführt, dass Bayern München nach dem vierten Spieltag quasi als Meister feststeht. Das kann nicht gut sein für das Gesamtprodukt.

Sie sind sich also einig?

Hoffmann: In dem Thema gibt es keinen Dissens. Dass wir in einzelnen Themen unterschiedliche Positionen vertreten, wird die Diskussion in den kommenden Wochen zeigen, da bin ich ganz sicher.

Das Stichwort 50+1 ist gefallen. Wo steht nun eigentlich der HSV?

Hoffmann: Wir müssen ehrlich sein und die Wettbewerbsfähigkeit national und international befördern. Da mögen Oke und ich ein Stück weit unterschiedlicher Meinung sein. Ob der Wegfall von 50+1 das Allheilmittel ist, das würde ich auch nicht sagen, aber da würde ich mich jetzt nicht festlegen wollen, bevor wir die Diskussion nicht wirklich geführt haben. Der Robin-Hood-Ansatz des Geschäftsführers des FC St. Pauli (gemeint ist Andreas Rettig, die Red.), diese Diskussionen ein für alle Mal tot zu machen zu wollen, wird aber nicht lange halten.

Wird Sie nicht?

Göttlich: Ach, ich fühle mich erst mal wohl mit einem Votum von beinahe 20 von 36 Vereinen für den Erhalt von 50+1. Dass es natürlich lobbyistische und juristische Ansätze gibt, das gerne kippen zu wollen, ist uns bewusst. Die Frage, wie Herr Hoffmann richtig sagt, ist ja: Ist das wirklich das Allheilmittel? Wird ein Fall von 50+1 die nationale wie internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken?

Also?

Göttlich: Ich glaube nicht! Es führt zu einer Stärkung der Starken. Oder glaubt jemand, dass Augsburg, Bremen, Mainz oder Freiburg ähnlich attraktive Investoren finden wie Frankfurt, Berlin oder München. Wir würden uns in ein Rattenrennen um Investoren begeben. Natürlich weiß ich, dass eine Einflussnahme über 49 Prozent hinaus den Geldhahn vielleicht noch mal etwas mehr öffnet, um die Führungskontrolle zu übernehmen. Aber es gibt momentan nun mal deutlich mehr Beispiele, wo es schlecht gelaufen ist nach einer Übernahme von mehr als 50 Prozent.

Nämlich?

Göttlich: Nehmen wir zahlreiche Clubs im Ausland wie den AC Milan, Vitesse Arnheim, den AC Parma, den FC Málaga, Nottingham Forest oder den FC Portsmouth, wo es Machenschaften gab, die mit einem sauberen Geschäftsmodell nichts zu tun haben. Wir laufen in Gefahr, den Fußball nicht mehr für das zu benutzen, was er ist: nämlich eine sportliche Auseinandersetzung unter ähnlichen Wettbewerbsbedingungen. Wir kümmern uns ja heute schon beinahe mehr um Investoren als um den Sport. Das würde nur noch mehr zunehmen. Das ist mein großer Punkt. Ich bleibe dabei, dass ich es für absurd halte, von sehr wenigen, aber mächtigen Leuten gesagt zu bekommen: Wir brauchen die internationale Wettbewerbsfähigkeit, die ist mit dem Wegfall von 50+1 zu erreichen.

Hoffmann: Wir müssen wieder Wettbewerb innerhalb der Liga herstellen, uns aber auch international wettbewerbsfähig aufstellen. Es gibt kein kapitalistischeres System als den Profifußball. Wenn man sagt: Ich möchte gerne in der Zweiten Liga mit einem Gehaltsniveau von zehn bis 15 Millionen Euro mitspielen, ein Unterhaltungsprodukt für die Region anbieten, dann kann man das machen. Hat man aber den Anspruch hat, auf internationaler Bühne eine Rolle zu spielen , funktioniert das so nicht. Die Attraktivität der Bundesliga ist schon lange bedroht, weil wir international nicht wettbewerbsfähig sind. Meine 14-jährigen Söhne kennen mehr Spieler von Juventus Turin als von Eintracht Frankfurt oder Schalke. Wenn in zehn bis 15 Jahren die Liga noch weiter abgehängt ist, dann haben wir international gar kein Produkt mehr zu vermarkten.

Göttlich: Genau da ist mein Ansatz. Es geht um Wettbewerbsgesetze und Regularien. Wir als Verband wollen doch die Hoheit über unser Ssegment behalten. Deswegen brauchen wir klare und nachvollziehbare Regeln, die auch zwischen FIFA, UEFA und der DFL wie dem DFB greifen und sanktioniert werden. Hier ist unserer Meinung, auch gerade in Bezug auf 50+1, das Verbandsrecht ein sehr hoher Schutzwall. Ich habe jedenfalls keine Lust mich damit abzufinden, dass der Sport durch unfaire Wettbewerbsbedingungen und zu vielen Ausnahmen und Tricksereien an Attraktivität verliert, nur um des Show und Glamour Willen.

Hoffmann: ..wenn wir einen Closed Shop hätten in Deutschland, wäre ich ja bei dir. Haben wir aber nicht. Das ist ein offenes System, innerhalb Deutschlands als auch international...

Göttlich: …ich will mich nicht damit abfinden. Ich glaube schon, dass die Uefa oder auch die Fifa, der DFB oder die DFL in der Lage sein sollten, Regularien zu treffen. Und unter Umständen brauchen wir auch politische Regularien. Das, was wir haben, ist offener Kapitalismus, der in seinen Rändern eine Ausfransung hat, die wirklich menschenverachtend ist. Das hat mit Sport nichts mehr zu tun. Momentan kümmern wir uns mehr um die Rendite von Holdings als um den Sport. Das wird noch mehr zum Problem, wenn wir das öffnen.

Hoffmann: 50+1 ist allerdings aktuell nicht das Kernproblem des HSV, unser Thema sind die drei Punkte, die wir am Sonntag holen wollen.

Herr Göttlich, beim letzten Derby 2011 waren Sie noch keine handelnde Person.

Göttlich: Das war vielleicht auch ganz gut so. Ich habe das Spiel ohne Verantwortung, aber mit dem einen oder anderen Drink auf der Tribüne genossen. Ich weiß nur noch, dass wir nicht die bessere Mannschaft waren, dass es da aber diesen einen Eckball in der zweiten Hälfte gab. Dann kam Asamoah...

Hoffmann: Spätestens zu dem Zeitpunkt habe ich auch meine Zurechnungsfähigkeit verloren. Das hatte allerdings weniger mit Alkohol als viel mehr mit meinem Schockzustand zu tun.

Dann hoffen wir mal, dass eine Derby-Spielerei zum Schluss unseres Gesprächs Ihnen keinen Schock bereitet. Bitte vervollständigen Sie abwechselnd den Satz kurz und knapp. Herr Göttlich: Der HSV wird am Ende der Saison...

Göttlich: ...Dritter.

St. Pauli wird niemals...

Hoffmann: ...mehr Mitglieder haben als der HSV.

Wenn Herr Kühne St. Pauli 100 Millionen Euro anbieten würde, dann...

Göttlich: …würden wir ihn fragen, wie er sich das vorstellt, in den jetzt geltenden Rahmenbedingungen des FC St. Pauli e.V. dieses Geld einzusetzen, um den sportlichen Erfolg zu erhöhen, ohne Einfluss zu nehmen.

St. Paulis ganzes Gerede vom Kultclub ist in Wahrheit...

Hoffmann: ...eine clevere Marketingmasche.

Vom HSV kann der FC St. Pauli noch lernen wie...

Göttlich: ...wie man nach zwei verpassten Finaleinzügen Entscheidungen nicht treffen sollte.

Last but not least: St. Pauli wünsche ich von ganzem Herzen...

Hoffmann (überlegt lange und lacht): ...Kreativität bei der Gestaltung eines Derbyverlierer-T-Shirts.