Hamburg. Nach dem Sieg gegen Kiel hat der Kiezclub nur noch drei Zähler Rückstand auf Rang drei. Buballa: „Die Saison ist noch nicht gelaufen“.
Als Fifa-Schiedsrichter Felix Brych um 15.23 Uhr seine Pfeife ein letztes Mal ertönen ließ, gab es im Millerntor-Stadion kein Halten mehr. Auf dem Rasen fielen sich die erschöpften, aber glücklichen Profis des FC St. Pauli nach dem hochdramatischen 3:2-Lastminute-Sieg gegen Holstein Kiel in die Arme, auf der Tribüne feierte Aufsichtsratsmitglied Roger Hasenbein glücklich seinen 60. Geburtstag und auf den Rängen wurde der niemals aus der Mode geratene Evergreen „Derbysieger, Derbysieger, hey, hey“ angestimmt. Partyzone Millerntor. „Das ist einfach Wahnsinn, das fühlt sich überragend an“, strahlte Christopher Avevor, der Mann, der mit seinem Kopfballtor in der 89. Minute das Nordderby entscheiden konnte.
Es war eine dieser Geschichten, die Sportreporter gerne mit dem Wort „ausgerechnet“ einleiten. Ausgerechnet Avevor, der Innenverteidiger, der nicht für seine Knipserfähigkeiten gefürchtet ist, ausgerechnet der 26-Jährige, der in Kiel das Licht der Welt erblickte, ausgerechnet Avevor, der bereits 2012 auf dem Platz stand, als St. Pauli letztmals einen Pausenrückstand am Millerntor drehen konnte. Ausgerechnet der Defensivspieler, der beim 1:2 durch Marvin Ducksch ganz alt aussah. Solche Geschichten, na Sie wissen schon ... „Das fühlt sich für einen gebürtigen Kieler genauso gut an wie für alle anderen auch. Wir haben als Mannschaft in der zweiten Halbzeit eine Energieleistung gezeigt und sind belohnt worden. Das ist großartig“, analysierte Avevor.
Kiel über weite Strecken überlegen
Diese Energieleistung war auch nötig, schließlich war Holstein Kiel über weite Strecken das klar überlegene Team. Das Überraschungsteam aus Schleswig-Holstein nutzte die großen Lücken, die St. Pauli trotz der frühen Führung durch Richard Neudecker (11. Minute) im Mittelfeld anbot. Immer wieder kombinierte sich der Aufsteiger gefällig durch das Mittelfeld. Der beim SC Concordia ausgebildete Kingsley Schindler (14.) per Foulelfmeter – Lasse Sobiech hatte David Kinsombi zu Fall gebracht – und der vom Kiezclub ausgeliehene Marvin Ducksch (19.) drehten die Partie für den Aufsteiger, der es in der Folge verpasst hat, trotz zahlreicher Großchancen den Sack zuzumachen. St. Paulis Schlussmann Robin Himmelmann und dem Unvermögen im Abschluss der Kieler war es zu verdanken, dass die Gastgeber überhaupt noch im Spiel waren. „Wir haben Glück gehabt, dass Holstein uns am Leben gelassen und vor dem Tor nicht den besten Tag erwischt hat“, gestand der zweite Matchwinner des Nachmittags Richard Neudecker. Mit zwei Toren und der Vorlage zum Siegtreffer zeigte der hochtalentierte Mittelfeldspieler das beste Spiel im St.-Pauli-Trikot. Als der 21-Jährige in der Nachspielzeit ausgewechselt wurde, gab es stehende Ovationen. „Das war Gänsehaut pur. Ich fühle mich richtig geil, bin aber tot. Ich glaube, ich schaue mir meine Tore noch 25-mal auf der Couch an“, gestand Neudecker, der letztmals in der A-Jugend für 1860 München einen Doppelpack erzielen konnte. „In der ersten Halbzeit fand ich uns nicht so stark. Der Trainer hat gesagt, dass es nicht ging, was wir gespielt haben. Da haben wir Klartext gesprochen“ erklärte Neudecker, der Zustimmung von Trainer Markus Kauczinski bekam. „Die Botschaft war, dass man die erste Halbzeit vergessen konnte. Die Wortwahl kann ich nicht wiederholen aber wir hatten in der zweiten Halbzeit den Punch und den Sieg einfach gewollt.“
„Die Saison ist noch nicht gelaufen“
Auf die klaren Worte folgten eindrucksvolle Taten. Im zweiten Durchgang war St. Pauli deutlich griffiger in den Zweikämpfen. Viele knappe Duelle, die in der ersten Hälfte verloren wurden, gingen in den zweiten 45 Minuten an die Kiezkicker. Zudem brachte der zur Pause für den akut gelbrotgefährdeten Kapitän Bernd Nehrig eingewechselte Johannes Flum Struktur ins Spiel. Die Mannschaftsteile standen deutlich enger zusammen, sodass Kiel kaum noch klaren Spielaufbau betreiben konnte. Die Folge: St. Pauli konnte endlich Druck aufbauen und die Defensivschwächen von Kiel, die seit elf Spielen auf einen Sieg warten, aufdecken.
Durch den leidenschaftlich erkämpften Heimsieg beträgt der Rückstand auf den Aufstiegs-Relegationsplatz nur noch drei Zähler. „Wenn wir verloren hätten, wäre Kiel neun Punkte weg gewesen und die Saison quasi abgehakt“, analysierte Daniel Buballa und richtete eine kleine Kampfansage an die Konkurrenz. „Die Saison ist noch nicht gelaufen“, sprudelte es aus dem Linksverteidiger raus, ehe er doch auf die Euphoriebremse trat. „Es ist extrem eng nach oben und nach unten. Wir fighten um jeden Punkt und dann sehen wir mal, was am Ende herumkommt. Wir freuen uns jetzt erst einmal einen Tag und dann wartet das nächste Topspiel.“
Am Sonntag steht für St. Pauli beim Zweitliga-Zweiten Fortuna Düsseldorf die nächste Reifeprüfung bevor. „Die Tabelle ist schön, aber im Moment unwichtig. Düsseldorf ist kein so schlechter Gegner, die wollen aufsteigen. Eine Kampfansage gibt es von mir auf gar keinen Fall“, sagte Neudecker.