Hamburg . Bilanz im neuen Stadion ist schwach: In den jüngsten 22 Spielen gab es nur sechs Siege. Gegen Aue will Club die Wende schaffen.

Früher war es, na klar, besser. Sagt zum Beispiel Lina Drahl (29), schon als Kind Dauerkarteninhaberin, und meint die Stimmung im Stadion. Sagt auch Andre Krüger (51), seit 30 Jahren Stammgast am Millerntor, und meint die Ergebnisse. Dass es früher wirklich besser war, sagt übrigens auch die Statistik: Sie belegt unzweideutig, dass der FC St.Pauli seine einstige Heimstärke immer mehr eingebüßt hat. Entsprechend groß ist der Druck vor dem Spiel gegen Erzgebirge Aue an diesem Freitag (18.30 Uhr, Sky und Liveticker abendblatt.de), endlich mal wieder auch zu Hause zu überzeugen.

Schon in der vergangenen Saison hat St. Pauli auswärts mehr Punkte (23) geholt als in Heimspielen (22), aktuell ist die Diskrepanz noch augenscheinlicher: Fünf Heimpunkten in fünf Spielen stehen 13 Auswärtszähler gegenüber, lediglich gegen Heidenheim gelang am 4. Spieltag ein Sieg am Millerntor. Das beschäftigt natürlich auch Trainer Olaf Janßen. „Ich habe die Spieler gefragt: Welche Gründe sollte es geben, lieber auswärts zu spielen als zu Hause? Die Antwort war betretenes Schweigen.“ Er ist überzeugt, dass der Trend gebrochen werden kann. „Wir haben mit Herz und Hirn nur einen Wunsch: Gewinnen.“

Auch heute Abend wieder volle Ränge

Unterstützt wird die Mannschaft dabei auch heute Abend wieder von vollen Rängen, das vor gut zwei Jahren fertiggestellte Stadion wird wie fast immer ausverkauft sein. Doch möglicherweise ist gerade das eher ein Hemmschuh. Betrachtet man die langjährige Statistik, drängt sich die These auf: Je weiter der 2007 begonnene Stadionausbau voranschritt, desto schlechter wurde die Heimbilanz. In den vier Zweitligajahren von 2007 bis 2012 (die Abstiegssaison 2010/11 aus der Bundesliga ausgenommen), holte die Mannschaft im Schnitt 2,07 Punkte pro Spiel am Millerntor – seitdem waren es nur noch 1,49 Punkte. Gab es in den ersten vier Jahren insgesamt elf Heimniederlagen, waren es in den letzten vier Jahren 24. Hat die Mannschaft einen Heimkomplex?

„Ich glaube schon, dass das Stadion hemmend wirken kann“, sagt Andrea Dengler. Die 53-Jährige hat seit 1991 eine Dauerkarte und sieht auch ein Stimmungsproblem. „Es kommt schon vor, dass Leute pöbeln, pfeifen oder vor Spielschluss gehen. Das gab es so früher nicht.“ Lina Drahl bestätigt das: „Die Unterstützung war in der Vergangenheit bedingungsloser.“ Sie sieht auch einen Zusammenhang mit den Ultras, deren „monotone Gesänge“ zum Stimmungsabfall beitrügen.

Jan-Philipp Kalla will das so nicht bestätigen. Der 31-Jährige ist der erfahrenste Profi im Kader, seit 2007 dabei und meint, dass die Stimmung im Stadion besser geworden sei. „30.000 Fans machen mehr Lärm als 20.000“ sagt er. Die Atmosphäre beflügele die Spieler, sagt er, Gründe zum Verkrampfen gebe es nicht. Warum dann aber die schlechten Ergebnisse? „Viele Gegner spielen sehr defensiv und stellen sich hinten rein, das macht es schwierig“, sagt Kalla.

Sportpsychologe sieht viele mögliche Gründe

Das sieht auch Fan André Krüger so, lässt es aber nicht als Begründung gelten. „Früher hatten die meisten Mannschaften Angst, hier zu spielen. Heute freuen sich alle, wenn sie herkommen dürfen.“ Das „welcome to hell“, das am Stadion und im Spielertunnel prangt, scheint seine Berechtigung verloren zu haben. Die Hölle ist das Millerntor für Gäste in der Tat nur noch in Ausnahmefällen. Krüger: „Die Mannschaft wirkt gerade zu Beginn häufig fast lethargisch. Früher wollte man den Gegner von Beginn an beeindrucken und unter Druck setzen, das passiert kaum noch.“ Heute versuche das Team, alles spielerisch zu lösen, was zu Hause nur selten funktioniere.

Warum aber zeigt eine auswärts so erfolgreiche Mannschaft zu Hause ein anderes Gesicht? Sportpsychologe Thorsten Weidig sieht viele mögliche Gründe, die dazu beitragen können. „Gestiegene Erwartungen des Publikums und Umfelds können dazu führen, dass manche Spieler vor allem Fehler vermeiden wollen und vorsichtiger agieren; andere können zu Übermotivation neigen und zuviel wollen“, sagt der Hamburger, der unter anderem am Olympiastützpunkt mit vielen Spitzensportlern arbeitet und bis 2013 auch die Fußballprofis des HSV betreut hat.

FC St. Pauli in Sandhausen:

St. Pauli rettet einen Punkt in Sandhausen

„Fuck mondays“: Der Aussage der mitgereisten St.-Pauli-Fans würde sich wohl auch so mancher an Fußball gänzlich Uninteressierter anschließen
„Fuck mondays“: Der Aussage der mitgereisten St.-Pauli-Fans würde sich wohl auch so mancher an Fußball gänzlich Uninteressierter anschließen © WITTERS | ThorstenWagner
Waldemar Sobota setzt sich gegen Manuel Stiefler und Denis Linsmayer durch
Waldemar Sobota setzt sich gegen Manuel Stiefler und Denis Linsmayer durch © dpa | Uwe Anspach
Mats Möller Daehli behält den Ball fest im Blick
Mats Möller Daehli behält den Ball fest im Blick © Bongarts/Getty Images | Simon Hofmann
Jose Pierre Vunguidica und St. Paulis Lasse Sobiech kämpfen um den Ball
Jose Pierre Vunguidica und St. Paulis Lasse Sobiech kämpfen um den Ball © dpa | Uwe Anspach
Die mitgereisten St.-Paulianer brauchten starke Nerven
Die mitgereisten St.-Paulianer brauchten starke Nerven © WITTERS | ThorstenWagner
Manuel Stiefler gegen Waldemar Sobota
Manuel Stiefler gegen Waldemar Sobota © WITTERS | ThorstenWagner
Sandhausens Keeper Marcel Schuhen hält...
Sandhausens Keeper Marcel Schuhen hält... © dpa | Uwe Anspach
...Robin Himmelmann auch.
...Robin Himmelmann auch. © Bongarts/Getty Images | Simon Hofmann
Bernd Nehrig verletzte sich und musste ausgewechselt werden
Bernd Nehrig verletzte sich und musste ausgewechselt werden © WITTERS | ThorstenWagner
Und dann auch noch das: In der 80. Minute trifft Stiefler zum 1:0
Und dann auch noch das: In der 80. Minute trifft Stiefler zum 1:0 © Bongarts/Getty Images | Simon Hofmann
Nicht zum Aushalten: Trainer Olaf Janssen rauft sich die Haare
Nicht zum Aushalten: Trainer Olaf Janssen rauft sich die Haare © WITTERS | ThorstenWagner
Die Erlösung in der 90. Minute: Der für Nehrig eingewechselte Jan-Marc Schneider trifft zum Ausgleich
Die Erlösung in der 90. Minute: Der für Nehrig eingewechselte Jan-Marc Schneider trifft zum Ausgleich © imago/foto2press | Oliver Zimmermann
Der Rest ist Erleichterung
Der Rest ist Erleichterung © Bongarts/Getty Images | Simon Hofmann
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Zur konkreten Situation bei St. Pauli will er sich nicht äußern, „weil das aus der Ferne natürlich unseriös wäre“. Grundsätzlich aber seien in solchen Situationen oft psychologische Gründe die Ursache, weil ein über einen längeren Zeitraum bestehender Trend zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. „Zum Beispiel fällt es dann auswärts leichter, frei aufzuspielen, weil Spieler das Gefühl haben, vor allem etwas zu gewinnen zu haben, während in Heimspielen der Eindruck vorherrscht, gewinnen zu müssen. Dann liegt der Fokus nicht im Spiel, sondern auf dem Spiel“, sagt Thorsten Weidig.

Nicht ans Gewinnen denken

Kann also ein Teufelskreis entstehen, wenn hohe Erwartungen des Publikums die Spieler hemmen, was wiederum das Publikum enttäuscht? „Es ist gar nicht so wichtig, was das Publikum macht, sondern wie die Spieler das interpretieren“, sagt Weidig. „30.000 Fans sind für den einen eine Hilfe, für den anderen erzeugen sie Druck. Es gibt auch Spieler, die bei negativen Fan-Reaktionen besser werden.“ Für die Sportler sei es entscheidend, sich auf das Richtige zu fokussieren – „nicht auf das Gewinnen allgemein, sondern auf etwas Konkretes: die nächsten fünf Minuten, die nächste Aktion, die eigene taktische Aufgabe.“ Psychologen nennen das Prozessorientierung. Weidig: „Das kann und muss man üben und lernen.“

Am Willen wird es jedenfalls auch an diesem Freitagabend gegen Aue nicht scheitern – weder bei den Spielern, noch beim Publikum. „Natürlich werde ich die Mannschaft anfeuern, auch wenn es nicht so gut läuft“, sagt Lina Drahl. So wie immer. So wie früher.

FC St. Pauli: Himmelmann – Zander, Sobiech, Avevor, Buballa – Nehrig, Flum – Sobota, Buchtmann, Möller Daehli – Allagui.

Aue: Männel – Rizzuto, Kalig, Wydra, Rapp, Kempe – Tiffert, Riese – Bunjaku, Köpke, Kvesic.