Hamburg. Olaf Janßen ist seit 100 Tagen Cheftrainer des FC St. Pauli. Er kritisiert den heutigen Umgang mit den Kollegen seines Berufsstandes.

Am Sonntag gab es für Olaf Janßen gleich einen doppelten Anlass zum Feiern. Zum einen wurde er 51 Jahre alt, gleichzeitig war es sein 100. Tag als Cheftrainer des FC St. Pauli, nachdem er zuvor schon vom 2. November 2016 bis zum 30. Juni dieses Jahres als Co-Trainer tätig gewesen war. Anlässlich seines doppelten Jubiläums nahm sich Janßen Zeit, um mit dem Abendblatt über sein Team, über Hamburg und über das Ansehen seines Berufsstandes zu sprechen.

Hamburger Abendblatt: Wie fällt Ihre persönliche 100-Tage-Bilanz als Cheftrainer des FC St. Pauli aus?

Olaf Janßen: Das sind ja keine normalen 100 Tage, sondern es gehört auch die Zeit dazu, seit ich im November 2016 als Co-Trainer hierher gekommen bin. Ohne Ewald Lienen hätte ich jetzt auch nicht die 100 Tage als Cheftrainer hier auf dem Buckel. Wir hatten eine super Zusammenarbeit, die Mannschaft ist uns gefolgt und hat sich von einem Tabellenletzten, der am Boden lag, zu einem Team entwickelt, das eine Rekordrückrunde gespielt hat. Insofern ist das, was in den vergangenen 100 Tagen passiert ist, die Fortführung der Monate zuvor. Die Mannschaft hat keine Ermüdungserscheinungen, sondern will weitermachen. Sie harmoniert miteinander, was für einen Trainer sehr wichtig ist. Ich muss hier keine Energie darauf verschwenden, Grüppchen auseinanderzubringen oder zusammenzuführen.

Was ist für Sie der größte Unterschied im Vergleich zu Ihrer Zeit als Co-Trainer?

Janßen: Am Anfang war es sicher der Faktor Verantwortung. Aber je länger Zeit ins Land gegangen ist, desto mehr merke ich, dass sich doch sehr wenig verändert hat, weil die Zusammenarbeit mit Ewald eine sehr spezielle war. Auch da hatte ich einen hohen Verantwortungsfaktor für unsere Strategie und für das, was auf dem Trainingsplatz passiert. Die Entscheidungen, die Ewald getroffen hat, waren auch immer ein Stück weit meine. Was sich elementar verändert hat, ist meine mediale Präsenz, die vorher bei null lag. Aber das ist für mich kein größeres Problem.

Gibt es ein Detail, das Sie ganz anders als Ewald Lienen machen?

Janßen: Es gibt tausend Wege, als Trainer eine Mannschaft zu führen. Die Aufgabe ist so umfangreich, und jeder Trainer tut gut daran, nicht von sich zu behaupten, dass er den perfekten Weg hat. Vielmehr muss man sich permanent auch hinterfragen. Ich muss jeden Tag tausend Entscheidungen treffen, und die sind nicht alle richtig. Es sind immer ein paar dabei, bei denen man am nächsten Tag denkt: das hättest du mal besser anders gemacht. Natürlich gibt es auch Dinge, die ich anders entscheide als Ewald. Tatsache ist, dass Ewald gefühlt 100 Jahre Erfahrung hat. Davon habe ich profitiert, aber auch er hat von meiner Arbeit profitiert. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ganz bewusst etwas anders als Ewald zu machen. Beim Kaffeetrinken unterscheiden wir uns allerdings. Das ist mein Laster, und da ist er mir gesundheitlich weit voraus, indem er keinen trinkt.

Als Co-Trainer ist man meist ja eine Art Kummerkasten für die Spieler. Wie nah sind Sie noch an den Spielern, was hat sich da seit dem 1. Juli verändert?

Janßen: Auch da hat sich nicht so viel verändert, weil ich auch als Co-Trainer nicht der Kummerkasten der Spieler war. Dazu war gar keine Zeit und Möglichkeit. Es war einfach Arbeit und Veränderung angesagt. Ich glaube, man spürt, dass ich mehr ein Bauchmensch als ein Kopfmensch bin. Insofern habe ich immer eine gewisse Nähe zu meinen Spielern. Man wird mich hier nicht als Diktator durch die Gegend laufen sehen, der seine Dinge durchprügelt. Aber ich bin auch nicht der Typ, der sich mit seinen Spielern abends noch trifft und mit ihnen essen geht oder ein Bierchen trinkt. Ich bin auch zu besessen, von dem was ich tue, als dass ich so ein Kumpel sein könnte. Den maximalen Erfolg kann man nur erreichen, wenn man auf die wesentlichen Dinge fokussiert bleibt.

Ihre Mannschaft hat in dieser Saison einige starke Halbzeiten gezeigt, aber noch in keinem Spiel über 90 Minuten voll überzeugt. Haben Sie inzwischen ein Grund erkannt, warum das so ist?

Janßen: Zunächst einmal ist es schon ein schönes Gefühl, wenn man nach neun Spielen eine Bilanz mit 16 Punkten ziehen kann und doch feststellt, dass noch nicht alles optimal ist und man noch Steigerungspotenziale hat. Wenn man das auch noch hinkriegt, fängt es an, richtig Spaß zu machen. Wir müssen als Verantwortliche aber aufpassen, dass wir nicht zu viel von dieser Mannschaft erwarten, sondern einen Schritt nach dem anderen machen. Wir müssen uns immer mal wieder klar machen, wo die Mannschaft vor einem Jahr im November stand. Sie lag in allen Bereichen am Boden. Wenn man dann sieht, worüber wir jetzt zehn Monate später reden, wäre es gerechter, wenn man der Mannschaft Zeit für die Entwicklung gibt. Dies gilt insbesondere im spielerischen Bereich. Wenn man eine Mannschaft in dieser Hinsicht auf den Kopf stellt und sie von einem Team, das selten am Ball ist und auf Konter setzt, zu einer Ballbesitzmannschaft umfunktioniert und versucht den Gegner spielerisch in die Knie zu zwingen, dann ist das mit praktisch den gleichen Spielern ein ambitioniertes Vorhaben und braucht einfach Zeit. Im körperlichen Bereich sind wir heute top, ebenso im Zusammenhalt und Teamgeist. Insgesamt muss ich als Trainer auch geduldiger sein und der Mannschaft die Zeit geben, diesen nächsten und dann wahrscheinlich auch entscheidenden Schritt zu gehen. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir auch diesen letzten Schritt der spielerischen DNA mittelfristig hinbekommen werden.

Was heißt mittelfristig, noch in dieser Saison?

Janßen: Darüber würde ich mich sehr freuen.

Das Team wird aber ja an der extrem erfolgreichen Rückrunde gemessen. Ist das eine Belastung?

Janßen: Ich habe mir kürzlich noch mal unseren 3:0-Sieg in der vergangenen Rückrunde gegen Heidenheim angeschaut. Da habe ich gedacht: wie schlecht war das denn? Da habe ich erst gemerkt, welche Erinnerungen man heute an diesen brutal wichtigen Sieg hat und was man inzwischen an Schwächen verdrängt hat.

Die Zweite Liga stellt sich nach gut einem Viertel der Saison tatsächlich so ausgeglichen und unberechenbar dar, wie es die meisten auch vorher schon erwartet haben. Es gibt im Gegensatz zu den beiden Vorjahren keinen nahezu gesetzten Aufsteiger. Gibt es dennoch etwas, was Sie an den ersten neun Spieltagen überrascht hat?

Janßen: Ja, nämlich dass es tatsächlich so extrem ausgeglichen ist, dass Teams wie Sandhausen und auch Kiel so weit oben mitspielen und auch spielerische Qualitäten haben. Das ist schon Wahnsinn. Gleichzeitig überrascht mich, dass Mannschaften wie Bochum und Ingolstadt noch hinterherhinken, wobei man bei denen davon ausgehen muss, dass sie irgendwann noch ins Rollen kommen. Vor der Saison habe ich noch gedacht, dass die ersten neun Spiele extrem anspruchsvoll sein werden und es danach etwas angenehmer wird. Jetzt muss ich feststellen, dass sich das relativiert hat. Als nächstes kommt jetzt mit Kaiserslautern ein Team, bei dem der Baum brennt, das aber gerade 3:0 gewonnen hat.

Welche Chance ergibt sich aus dieser Konstellation für Ihr Team?

Janßen: Mich stimmt positiv, dass am Ende die Mannschaften erfolgreich sein werden, die mit Rückschlägen und schwierigen Situationen am besten umgehen können. Das wird jede Mannschaft treffen. Wir haben das ja auch schon erlebt mit dem 0:3 in Darmstadt und dem 0:4 gegen Ingolstadt. Wenn es dann los geht und einer auf den anderen zeigt und die Spieler meinen, dass der Trainer falsch aufgestellt hat, wird es schwierig. In dieser Hinsicht sind wir sehr gefestigt und gut aufgestellt. Das ist ein gutes Gefühl.

Wenn man aber nicht nur nach unten, sondern auch nach oben schaut, wird klar, dass es in dieser Saison für viele Teams, zu denen aber auch der FC St. Pauli gehört, eine realistische Chance gibt aufzusteigen. Muss die Mannschaft vor diesem Hintergrund in der Winterpause noch einmal gezielt verstärkt werden, auch als Zeichen, dass man dieses Ziel ernsthaft angeht?

Janßen: Die Personalplanung sollte unabhängig vom Tabellenstand erfolgen. Das sind strategische Entscheidungen. Wir müssen im Winter analysieren, wie wir uns entwickelt haben, wie weit wir von diesem letzten Schritt entfernt sind, wie die Vertragssituationen unserer Spieler aussehen, mit wem wir gern verlängern möchten und wer dies mitmacht oder nicht. Die ersten Gespräche laufen schon jetzt. Klar ist aber, dass die personelle Planung etwas anders aussieht, wenn wir in der Winterpause die Chance haben, oben noch weiter anzugreifen, als wenn wir nur überlegen müssen, wie wir uns retten können.

Wie bewerten Sie derzeit das Ansehen von Trainern. Ist das noch ein Traumjob?

Janßen: Um diesen Beruf auszuüben, darf es kein Beruf, sondern muss es Berufung sein. Wenn ich allein meine private Situation in den vergangenen Jahren betrachte, muss ich sagen, dass man keine Chance hat, wenn man das nicht als Berufung ansieht und darin von der gesamten Familie voll unterstützt wird. Das Private bleibt doch ziemlich auf der Strecke.

Und wie bewerten Sie die hohe Fluktuation auf den Trainerposten?

Janßen: Insgesamt befinden wir uns in dieser Hinsicht auf einem äußerst bedenklichen Weg. Der Cheftrainer hat in einem Verein die wichtigste Funktion inne. Er ist der leitende Angestellte, der den direkten Zugriff auf die Spieler hat. Er hat damit direkten Einfluss auf alles, was passiert. Ein Trainer hat diese Verantwortung, braucht aber im gleichen Atemzug die Anerkennung und Unterstützung des Gesamtvereins. Der Trainer muss den Hut auf haben. Ich sage das nicht, weil es mir besonders viel Spaß macht, den Hut auf zu haben. Aber dann funktioniert ein Verein am besten. Wenn man aber sieht, was in vielen Vereinen tatsächlich mit den Trainern passiert, dass sie immer weniger zu sagen und zu bestimmen haben, dass nach drei Niederlagen die Spieler vor dem Trainer stehen und fragen, wie lange er noch da ist, dann kann das nicht gesund sein. Dann ist das schlecht für die Trainer, aber noch viel, viel schlechter für die Vereine, weil sie ihre wichtigste Position extrem schwächen. Das erleben wir mit permanenten Trainerentlassungen. Das kann nicht daran liegen, dass die Trainer immer schlechter werden. Das Gegenteil ist der Fall, die Ausbildung ist exzellent, wie wir an den vielen guten, jungen Trainern sehen. Aber die Position der Trainer in den Vereinen wird immer schwächer gemacht. Das wird am langen Ende am meisten den Vereinen schaden. Wo gibt es denn in der freien Wirtschaft den Trend, seinen wichtigsten Angestellten so schwach wie möglich zu machen?

Wenn einer Ihrer Söhne sie fragt, ob er Bundesligatrainer werden soll, was antworten sie dann?

Janßen: Wenn das tatsächlich einer der beiden fragen sollte, würde ich den Hut ziehen. Die haben ja alles mitbekommen, was das wirklich für die Familie bedeutet. Wenn einer von beiden diesen Berufswunsch hätte, wären ja all die Sorgen, die ich mir jeden Tag mache, völlig umsonst gewesen. Tatsächlich ist es aber so, dass der Älteste, der jetzt 21 Jahre alt ist, dem Tischtennis sehr zugeneigt ist und jetzt seine Ausbildung zum Steuerberater abschließt. Der Jüngere ist 17, spielt ein bisschen Fußball und geht noch zur Schule.

Haben Sie sich einmal einen anderen Beruf vorstellen können für die Zeit nach der aktiven Karriere?

Janßen: Ich habe Einzelhandelskaufmann gelernt. Ohne Lehre hat man damals auch keinen mittrainieren lassen. Aber für mich war immer klar, dass ich dem Fußball verbunden bleiben möchte. Das ist mein Leben, hier fühle ich mich wohl. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas geben kann, und ich genieße es auch, mit jungen Leuten zusammen und viel an der frischen Luft zu sein. Dazu kommt der Adrenalinkick am Wochenende.

Wie sind Sie in Hamburg inzwischen angekommen? Wie haben Sie sich die Stadt vorgestellt und was ist in der Realität anders?

Janßen: Erst einmal muss ich sagen: Hamburg ist wunderschön. Immer wenn mich Freunde besuchen, kommen sie sehr, sehr gern und fühlen sich super wohl. Ich glaube, das ist in Deutschland einzigartig in der Art und Weise mit Wasser und dieser alten Baukultur, das ganze Ambiente. Das Wetter könnte tendenziell ein bisschen besser sein. Aber ich habe mal mit einem alteingesessenen Hamburger gesprochen, der sagte: „Herr Janßen, stellen Sie sich vor, jetzt würde hier noch die Sonne scheinen. Dann hätten wir sechs Millionen Einwohner.“ Da ist was dran. Also lasst es weiter regnen. Ich bin sehr gut angekommen – auch im Schanzenviertel, wo ich wohne, finde ich es einfach klasse. Da stellt man sich vor, als Bundesligatrainer gehen dir in Anführungsstrichen die Leute auf den Geist, wenn du durch die Gegend läufst. Das Gegenteil ist der Fall. In der ganzen Zeit habe ich vielleicht drei Unterschriften gegeben und zehn Selfies gemacht. Das ist cool. Die Leute sind nicht so: „Oh, da kommt der Trainer.“ Sondern es gibt mal einen Gruß oder Ähnliches. Das war es. Man fühlt sich einfach wohl. Mit dem Nachbarn kommt man ins Gespräch. Als Kölner fühle ich mich mit der ganzen Mentalität sehr wohl und kann eine Menge hiermit anfangen.

Haben Sie ein Ritual am Spieltag, sind Sie abergläubisch?

Janßen: Nein. Rituale habe ich nicht. Der Spieltag läuft sowieso immer gleich ab. Mit aufstehen, essen, besprechen und so weiter. Und mit diesen weiteren Dingen von wegen, welche Hose oder welches Hemd hatte ich beim letzten Sieg an – das kostet nur Energie. Da habe ich im Laufe der Jahre gelernt, dass es damit nichts zu tun hat. Und man macht sich nur verrückt.

Bekommen Sie in der Kabine Rituale der Spieler mit?

Janßen: Ich muss sagen, da bin ich auch im Tunnel. Darauf habe ich noch nicht so geachtet, wer welchen Tick hat. Allerdings muss Aziz Bouhaddouz immer als Allerletzter aus der Kabine gehen. Ich glaube, wenn Aziz als Erster aus der Kabine gehen müsste, spielt er nicht.

Wie viel Fußball schauen Sie sich zusätzlich zur Analyse der eigenen Spiele an?

Janßen: Ich gucke relativ viel. Ich versuche aber, das nach Energien einzuteilen. Wenn man den ganzen Tag damit zu tun hat und man sich auf den nächsten Gegner vorbereitet, dann muss man sich schon überlegen, ob man das Montagsspiel, die Champions League am Dienstag und Mittwoch und Donnerstag die Europa League mitnimmt und am Wochenende noch die erste Liga. Das bringt ja nichts. Ich versuche schon, das ein oder andere zu lesen und mir Mannschaften herauszupicken, die mich einfach interessieren. Wie spielen die? Wie sind die organisiert? Wie verhalten die sich? Aber das ist kein fester Fahrplan. Das geht nach Energien, wie viel Lust ich habe und wie fit ich bin. Das ist der „Vorteil“, dass ich alleine bin. Da kann man schon das eine oder andere mitnehmen, als wenn man im Garten noch mal ein Ball spielt oder abends mit der Frau unterwegs ist.

Wie intensiv lesen Sie Zeitung? Und die Jungs in der Kabine?

Janßen: Das lasse ich den Jungs völlig frei. Das Trainerteam verfolgt natürlich die Presse. Ich denke, das gehört dazu, dass man die Dinge verfolgt. Man arbeitet ja zusammen und da will man natürlich wissen, was da gerade auf dem Plan steht.

Welche Schlagzeile würden Sie gern lesen?

Janßen: Das ist ja jetzt eine gemeine Frage. Da kann ich ja eigentlich nur falsch drauf antworten. Egal wie. Ich würde mir eine Schlagzeile nach dem Motto wünschen: „Olaf Janßen ist stolz auf seine Mannschaft.“ Denn ich kann auch stolz sein, wenn wir Achter werden und ich feststellen muss, sieben waren besser als wir. Andersherum können wir auch Vierter werden, und ich bin unzufrieden, weil wir die Punkte haben liegen lassen. Wenn ich am Ende sagen kann, ich bin stolz auf das, was wir geleistet haben, dann ist alles gut.