Hamburg. Der Hamburger Zweitligaclub verpflichtet überraschend den begehrten DFL-Geschäftsführer. Auch der HSV war schon an Rettig dran.
Viel geschlafen hat Oke Göttlich in den vergangenen Tagen nicht. Genauer gesagt beschränkte sich seine Schlafzeit seit dem Schlusspfiff in Darmstadt am Sonntag auf wenige Stunden. Was aber weniger daran lag, dass der Präsident des FC St. Pauli den Klassenerhalt des Hamburger Zweitligisten in ausschweifender Form gefeiert hat. Im Gegenteil. Nachdem die Rettung des Kiezclubs perfekt wurde und Göttlich gemeinsam mit Trainer Ewald Lienen sowie den Spielern Jan-Philipp Kalla und Robin Himmelmann im Fanzug zurück nach Hamburg fuhr, begann für Göttlich die Nachspielzeit. Seit Freitag weiß man nun auch, was den Vereinschef in den vergangenen Tagen so sehr beschäftigte. Intensive Verhandlungen, dessen Ergebnis der FC St. Pauli um 14.10 Uhr mit folgender Nachricht vermeldete: Andreas Rettig wird neuer Geschäftsführer.
Jener Rettig, der am 6. Januar dieses Jahres den Vorstand der Deutschen Fußball-Liga darum bat, seine Tätigkeit als Geschäftsführer der DFL Ende Juni vorzeitig beenden zu dürfen. Jener Rettig, der seit diesem Tag zu den begehrtesten Funktionären im Deutschen Fußball zählte. Jener Rettig, der den Wunsch hatte, wieder bei einem Verein zu arbeiten, und sich unter lukrativen Anfragen einen hochkarätigen Vertrag mühelos hätte aushandeln können. RB Leipzig soll den 52-Jährigen bereits im Januar gelockt haben. Bei Eintracht Frankfurt soll Rettig als Nachfolger von Vorstandschef Heribert Bruchhagen im Gespräch gewesen sein. Und auch bei Hannover 96 hätte man Rettig wohl nur zu gerne nach dem Klassenerhalt in letzter Minute als neues Gesicht präsentiert. Doch Rettig entschied sich anders. Gegen das Geld. Für den FC St. Pauli. „Ich habe mich für das wirtschaftlich schlechteste Angebot entschieden, aber ich freue mich sehr auf die neue Aufgabe“, wurde Rettig in der Vereinsmitteilung zitiert. Mehr sagen wollte er am Freitag nicht.
Reaktionen auf den Neuzugang waren einseitig – positiv
Noch ist Rettig ja auch nicht da. Bis zum 30. Juni steht er noch bei der DFL unter Vertrag. Am 1. September beginnt sein Arbeitsverhältnis beim FC St. Pauli. Rettig übernimmt dann als kaufmännischer Geschäftsführer die Nachfolge von Finanzvorstand Michael Meeske, der zum Ligakonkurrenten 1. FC Nürnberg wechselt. „Wir sind sehr froh, mit Andreas Rettig einen anerkannten Fachmann für uns gewonnen zu haben. Er bringt eine große Expertise als Geschäftsführer eines Fußballclubs mit, ist bestens auf Vereins- und Verbandsebene vernetzt und stellt für uns die optimale Lösung für die Nachfolge von Michael Meeske dar“, sagte Göttlich, der sich mit Rettig auf einen unbefristeten Vertrag einigen konnte.
Die Reaktionen auf den überraschenden Neuzugang waren sowohl in der Branche als auch in der Fanszene einseitig – einseitig positiv. „Wow“ war das wohl häufigste Wort, das in den ersten Kommentaren im normalerweise extrem kritischen Fanforum des Vereins zu lesen war. „Unerwartet, aber spannend“, schrieb Spielerberater Jörg Neblung, der unter anderem St. Paulis Torhüter Robin Himmelmann betreut, beim Kurznachrichtendienst Twitter. Reaktionen, die vor allem eines verdeutlichen: Dem FC St. Pauli ist mit der Verpflichtung von Andreas Rettig ein echter Coup gelungen. „Das spricht für unser Gesamtpaket. Unser Präsident und der Aufsichtsrat haben viel Überzeugungsarbeit geleistet“, sagte St. Paulis Medienchef Christoph Pieper und ergänzte: „In den vergangenen 48 Stunden wurde sehr intensiv verhandelt.“
Entscheidend für den Coup des Clubs war der Mut und das Selbstvertrauen des Präsidenten, überhaupt die Nummer von Rettig zu wählen und ihn von einem Engagement am Millerntor zu überzeugen. Dass es Göttlich schließlich gelang, den ehemaligen Manager des 1. FC Köln, des SC Freiburg und des FC Augsburg nach Hamburg zu holen, dürfte ihm auch in der Fanszene zusätzliche Reputation geben. Denn Rettig ist auch in der Ultraszene des Fußballs geschätzt, obwohl er sich im Zuge der Debatte um das umstrittene DFL-Sicherheitskonzept deutlich gegen den Einsatz von Pyrotechnik im Stadion aussprach. Ein Thema, mit dem er sich auch bei seinem künftigen Arbeitgeber auseinandersetzen dürfte. In der Rückrunde musste St. Pauli wegen des Abbrennens von Pyrotechnik beim Spiel in Sandhausen bereits 10.000 Euro Strafe zahlen. Die Geldbuße für die bunten Rauchstäbe beim Spiel gegen Leipzig steht noch aus.
Rettig ist zuzutrauen, dieses Thema bei St. Pauli in eine moderate Diskussion zu lenken. Er ist bei Fans geschätzt, weil er in der Vergangenheit immer den Dialog mit ihnen gesucht hat. Er hat kaum Kritiker. Und gilt darüber hinaus als Wirtschaftsfachmann. „Ich kann dem FC St. Pauli zu dieser Überraschung nur gratulieren. Andreas Rettig ist ein absoluter Fachmann“, sagte Reiner Calmund dem Abendblatt. Der langjährige Manager von Bayer Leverkusen arbeitete in den 90er-Jahren beim Werksclub lange mit Rettig zusammen und hätte ihn gerne zu seinem Nachfolger gemacht. „Andreas wollte aber lieber in die Zweite Liga zum 1. FC Köln. Er hatte schon immer die Neigung zum urtümlichen Fußball und ist gerne gegen den Strom geschwommen“, sagte Calmund.
2013 wollte der HSV Rettig verpflichten, erhielt aber eine Absage
Rettigs Vorliebe für Herausforderungen mit kleineren Mitteln dürfte auch ein Grund gewesen sein, warum er vor zwei Jahren dem HSV einen Korb gab, als dieser einen Nachfolger für den Dänen Frank Arnesen als Sportchef gesucht hatte. Der HSV entschied sich schließlich für Oliver Kreuzer, Rettig blieb bei der DFL.
Nun ist es dem Hamburger Lokalrivalen gelungen, den begehrten Funktionär unter Vertrag zu nehmen. Präsident Oke Göttlich freut sich vor allem darüber, mit Rettig wieder für Entlastung auf der Geschäftsstelle zu sorgen. In den kommenden Tagen kann er dann erst mal etwas Schlaf nachholen.