Hamburg. Der FC St. Pauli kämpft um den Klassenerhalt, Darmstadt 98 kann noch in die Bundesliga aufsteigen. Eine Erfolgsgeschichte.

Auf der Suche nach einer passenden Vokabel für das, was derzeit beim SV Darmstadt 98 passiert, hat Rüdiger Fritsch neulich mal den Begriff „Märchen“ im Onlinelexikon Wikipedia eingegeben. Der Präsident des Fußball-Zweitligisten musste dann aber feststellen, dass das Wort für den sportlichen Höhenflug der Hessen nicht so richtig passt. „Märchen sind frei erfunden, unsere Situation ist aber real“, sagte Fritsch am Mittwoch im Gespräch mit dem Abendblatt.

Die Realität in Darmstadt sieht einen Spieltag vor Saisonende wie folgt aus: Die Mannschaft von Trainer Dirk Schuster liegt auf dem zweiten Tabellenplatz, der am Sonntag den direkten Aufstieg zur Folge haben könnte. Gewinnt Darmstadt gegen den FC St. Pauli, würde der Verein nach 33 Jahren in die Bundesliga zurückkehren. Das Wort „Wunder“ wäre in diesem Falle wohl das passende. Denn erst zwei Jahre ist es her, dass die „Lilien“ in die Regionalliga abstiegen. Nur weil Kickers Offenbach keine Lizenz erhielt, durfte Darmstadt in der Dritten Liga bleiben. Im vergangenen Sommer schaffte der Club in einem verrückten Relegationsspiel gegen Arminia Bielefeld den Aufstieg. Nach einer 1:3-Niederlage im Hinspiel gewann Darmstadt in Bielefeld in der Nachspielzeit der Verlängerung mit 4:2. Schon damals titelten die Zeitungen von einem „Fußball-Wunder“.

Mit dem ligaweit kleinsten Etat von fünf Millionen Euro startete Darmstadt das Abenteuer Zweite Liga und surfte 33 Spieltage lang auf einer nicht enden wollenden Euphoriewelle. Nun steht der Verein vor einer der größten Sensationen in der deutschen Fußball-historie, die noch höher einzustufen wäre als die Aufstiege von Greuther Fürth, Eintracht Braunschweig oder dem SC Paderborn in den vergangenen Jahren. „Unser kleines gallisches Dorf müsste in der Bundesliga zwar aufrüsten. Wir würden versuchen, unsere Mauern ein Stück höher zu ziehen, um in den Kampf zu gehen“, sagt Fritsch.

Als der Aufsteiger am letzten Spieltag der Hinrunde durch ein spätes Tor von Fabian Holland mit 1:0 beim FC St. Pauli gewann und auf Relegationsplatz drei kletterte, dachten viele noch an einen vorübergehenden Höhenflug, der spätestens in der Rückrunde enden würde. Doch Darmstadt hörte auch nach der Winterpause einfach nicht auf zu gewinnen. In der Rückrundentabelle liegen die Lilien auf Platz eins, fünf Ränge vor St. Pauli. Die Hamburger, nach der Hinspielniederlage und dem Aus für Trainer Thomas Meggle noch Letzter, können am Sonntag nicht nur aus eigener Kraft den Klassenerhalt sichern, sondern Darmstadt gleichzeitig den Aufstieg zunichte machen.

„Das ist keine unschlagbare Mannschaft“, sagt St. Paulis Daniel Buballa, der sich noch gut an das Hinspiel erinnern kann. „Darmstadt hat eine super Abwehr und mit Christian Mathenia einen starken Torwart, den ich noch aus Mainz kenne“, sagt Buballa. St. Paulis Präsident Oke Göttlich ist überzeugt: „In dieser Liga kann jeder gegen jeden gewinnen. Warum sollten wir Darmstadt dann nicht schlagen können?“ Fritsch bedauert allerdings die Konstellation. „St. Pauli ist uns sicherlich näher als andere Vereine. Die Fans verspüren Sympathien füreinander. Es wäre schade, wenn einer der Vereine am Sonntag sein Ziel nicht erreicht.“

Bundesligatauglich sind die Strukturen in Darmstadt noch lange nicht. Das altehrwürdige, 16.500 Zuschauer fassende Merck-Stadion am Böllenfalltor besteht zu 80 Prozent aus Stehplätzen. Der VIP-Bereich befindet sich in einem Zelt außerhalb des Stadions. Die Umkleideräume erinnern an einen Kreisligisten. Zwei Scouts arbeiten in Darmstadt: die Väter von Trainer Dirk Schuster und von Co-Trainer Sascha Frenz. Fritschs Ehefrau kümmert sich um das Wohl der Spielerfrauen.

Ein Hauch von Fußballromantik, die man im Profigeschäft nicht mehr für möglich gehalten hätte. Für Darmstadt gilt es nun aber auch, den unerwarteten sportlichen Erfolg in wirtschaftliche Nachhaltigkeit zu führen, ohne die Vereinsidentität als Fußball-Gallier zu verraten. „Nur mit Fußballromantik wird man im Wettbewerb mit den anderen Fußballstädten nichts ernten“, sagt Fritsch.

Das Stadion, das der Stadt gehört, soll für 30 Millionen Euro bis 2018 zu einer modernen Arena umgebaut werden. Es wäre ein wichtiger Schritt, um Darmstadts Zukunft im Profifußball zu gewährleisten. Davon hängt auch der Verbleib von Erfolgstrainer Schuster ab. Der 47-Jährige macht keinen Hehl daraus, eines Tages einen Bundesligisten trainieren zu wollen. Gewinnt er am Sonntag gegen St. Pauli, würde dieses Ziel bereits real werden. Dann darf man in Darmstadt auch das Wort „Märchen“ verwenden. Schließlich wäre es eine Geschichte, die man sich nicht besser ausdenken könnte.