Vor seinem Abschiedsspiel am Millerntor spricht Fabian Boll mit seinem langjährigen Trainer Holger Stanislawski über die Faszination des FC St. Pauli und neue Ziele nach dem Fußball.

Hamburg. Am kommenden Sonnabend (15.30 Uhr) läuft die Nummer 17 das letzte Mal auf. „Bollzen“ hat Fabian Boll, 35, der seit 2002 für den FC St.Pauli spielte, sein gemeinnütziges Abschiedsspiel getauft. Der Spielerlös fließt an Projekte der Kiezhelden und die vom Weißen Ring unterstützten Opfer von Gewalttaten. Bislang sind 13.500 Karten verkauft. Viele Urgesteine der Braun-Weißen werden im Millerntor-Stadion dabei sein, darunter auch Bolls ehemaliger Trainer Holger Stanislawski, 45. Als Warm-up gab’s einen verbalen Schlagabtausch im Trainingszentrum an der Kollaustraße.

Fabian Boll: Stani, du siehst ja heute das erste Mal den Neubau. Weißt du noch, die alte Baracke? Wo jetzt die Geräte stehen, das war unser Lebenselixier. Da war alles drin.

Holger Stanislawski: Wilde Zeiten. Wir mussten zum Beispiel zwei Jahre lang Testspiele abschließen, um uns die Hotelübernachtungen vor Auswärtsspielen leisten zu können. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Als Manager und ehrenamtlicher Vizepräsident habe ich meinen Etat auf einer Excel-Tabelle selbst geschrieben.

Hamburger Abendblatt: Hat es funktioniert?

Stanislawski: 1,2 Millionen Euro hatten wir als Planzahl, unten stand aber 1,3. Wir mussten also 100.000 Euro sparen. Ich sagte damals zu Klaus-Peter Nemet: „KaPe, ich brauche einen Torwarttrainer und einen, der verletzte Spieler trainiert. Ich zahle dir 1500 Euro, mehr habe ich nicht.“

Boll: Die öffentlichen Trainingseinheiten mit 40, 50 Probespielern im Regionalligajahr werde ich nie vergessen. Und dann zusammen im Kollektiv aus dem Nichts etwas zu schaffen...

Stanislawski: ...wir waren von 2005 bis 2010 auch deshalb so erfolgreich, weil Spieler wie du wussten, was es bedeutet, für den FC St. Pauli zu spielen. Und wer es nicht kapierte, dem hast du es erklärt.

Man ist ja schnell dabei mit diesem Begriff: Verabschiedet sich mit Fabian Boll für Sie eine St.-Pauli-Legende?

Stanislawski: Was sonst? Ich kann es auf den Tod nicht leiden, wenn einer sechs Wochen im Verein ist und dann nach einem Tor das Emblem auf dem Trikot küsst. Das dürfen nur ganz wenige. Boller gehört dazu.

Herr Boll, erinnern Sie sich noch an das erste Treffen mit Stanislawski?

Boll: Mann, war ich aufgeregt, als ich zu den Profis durfte. Aber Stani kannte die Namen von allen Nachwuchsspielern, auch die Spitznamen. Er kam auf mich zu und sagte: Ey, Boller, wie geht’s?

Ist der Legendenstatus für Spieler in heutigen Zeiten überhaupt noch erreichbar?

Stanislawski: So schnell wird es keinen mehr geben, der das nur ansatzweise schaffen wird. Du lernst den Charme eines Clubs eben nicht mehr kennen, wenn du permanent wechselt. Die Identifikation bleibt auf der Strecke.
Warum hat es bei Ihnen bei St. Pauli klick gemacht?



Boll: Mich hat es fasziniert, aus bescheidenen Mitteln das Beste herauszuholen. Aber dieses Lebensgefühl heute noch zu transportieren, ist ganz schwer. Wir streben alle nach Perfektion, aber du musst auch darauf achten, dass dir nicht das Alleinstellungsmerkmal abhanden kommt.

Stanislawski: Boller hat recht, alles ist inzwischen überall irgendwie gleich. Die Stadien, das Marketing. Es gibt nur ein paar Ausnahmen. Ich war kürzlich bei Union Berlin. Die haben das ganz charmant mit dem Stadion gelöst. Die versuchen, ihre Identität zu retten.

Boll: Ich bin froh, dass wir am Millerntor eine elegante Lösung gefunden haben mit der Fassade, die sich im Stadtteil wiederfindet.

Stanislawski: Trotzdem muss auch der FC St. Pauli aufpassen, dass er nicht ein normaler Fußballverein wird. Die Spieler sollten wissen, dass viele andere Dinge auf der gleichen Stufe stehen wie der sportliche Erfolg. Was machen die Fans? Wie werden sie eingebunden? Wie ist der Club mit dem Stadtteil vernetzt? Das muss gepflegt werden.

Boll: Wenn du heute als Spieler keinen Fankontakt haben willst, kriegst du das hin. Nach dem Spiel schnell in den Fahrstuhl, VIP-Bereich, alles abgesteckt. Wenn wir früher nach der Besprechung durchs Clubheim gingen, hattest du zwar schnell fünf Zigaretten inhaliert, aber das hat eine ganz andere Verbundenheit gebracht. Das hat dich geerdet.

Uns ist aufgefallen, dass Sie zu den wenigen Hamburger Talenten gehören, die hier den Durchbruch geschafft haben. Es kann doch nicht sein, dass die Talente in Hamburg schlechter sind als anderswo.

Stanislawski: Wir waren ja aufgrund der finanziellen Engpässe immer gezwungen, eigene Leute in die Mannschaft einzubauen. Ich bin auch heute der Meinung: Du brauchst eine gute „erste 16“. Und die Spieler von Nr. 17 bis 23 müssen aus dem eigenen Nachwuchs kommen. Bevor ich, sagen wir mal, aus Burghausen einen Spieler als Nr. 23 für 7500 Euro im Monat verpflichte, nehme ich lieber einen aus der eigenen U23, zahle ihm 1800 Euro und ‘ne satte Auflaufprämie.

Boll: Man sieht doch heute bei uns, dass das auch geht. Spieler wie Startsev oder Kurt sind mit dem Herzen dabei, machen sich keine Birne wegen Druck. Die freuen sich einfach wie Bolle, dabei sein zu dürfen und zu marschieren.

Stellen Sie Veränderungen bei der heutigen Spielergeneration fest?

Boll: Die Charaktere sind ichbezogener, nach dem Motto: Wir haben zwar gewonnen, aber unser Stürmer, der war gar nicht so gut und hat trotzdem in der Zeitung die Note zwei bekommen. Und ich nur eine Vier. Wie kann das sein?

Stanislawski: Die Spieler haben unterschiedliche Bedürfnisse. Der eine will in kurzer Zeit viel Geld verdienen und die Familie absichern. Der andere setzt mehr auf seine sportliche Entwicklung, um seine Ziele zu verwirklichen.

Boll: Ein Problem habe ich damit, wenn einer acht Wochen vor Vertragsverlängerung sagt, der Verein sei für ihn eine Herzensangelegenheit. Und zwei Monate später doch wechselt und erzählt: Äh, war gar nicht so gemeint. Da verlierst du dein Gesicht.

Wie stehen Sie zu Clubs wie RB Leipzig oder Hoffenheim?

Boll: Das ist ein Geschäftsmodell, nämlich mit möglichst viel Geld in kurzer Zeit einen Verein so aufzustellen, dass Erfolg die logische Konsequenz ist. Aber mit diesem profitorientierten Denken tue ich mich schwer.

Herr Stanislawski, Sie haben in Hoffenheim gearbeitet. Dort kümmert man sich auch nachhaltig um den Nachwuchs...

Stanislawski: ...und bezahlt sechsstellige Beträge für 16-Jährige. Alles aber hat seine Berechtigung, ob nun ein großes Werk oder eine Person einen Verein mit Geld unterstützen. Deshalb sollte man sich nicht die Köpfe einhauen.

Herr Boll, Sie haben parallel zu Ihrer Karriere als Polizist gearbeitet. War das immer Ihr Traumberuf?

Boll: Ja, immer. Alle in der Familie sind bei der Polizei. Mein Vater war beim Bundesgrenzschutz, und wenn er dann nach Dienstschluss mit Blaulicht bei uns zu Hause vorgefahren ist, dann ist das für einen Sechsjährigen am Fenster schon sehr eindrucksvoll. Ich habe immer als Berufswunsch Polizist oder Profifußballer angegeben. Dass ich beides geworden bin, war nicht vorgesehen. Ist aber umso besser.

Was machen Sie genau bei der Polizei?

Boll: Ich habe ja nur einen 20-Stunden-Job und erledige deshalb vor allem Bürotätigkeiten im Landeskriminalamt.

Zum Beispiel?

Boll: Häufig geht es um Betrugsfälle. Wenn also jemand beim Online-Auktionshaus Ebay Dinge ersteigert und bestellt, die Ware dann aber nie bezahlt. Dann versuchen wir, denjenigen zu ermitteln.

Reizt es Sie auch, Mörder zu jagen und als Ermittler den Tatort zu inspizieren?

Boll: Nein, die Kollegen bei der Mordkommission haben ja nie Feierabend. Wenn da mal einer vor 22 Uhr das Büro verlässt, wird er schief angeguckt.

Das ist also wie beim „Tatort“ im TV?

Boll: Schlimmer.

Da bleiben Sie lieber bei Betrügern und Ladendieben. Vielleicht können Sie ja Ihrem Ex-Trainer helfen, wenn in seinem Rewe-Supermarkt eingebrochen wird.

Stanislawski: Wir hatten gerade neulich einen Ladendieb, da hätte ich Boller gut gebrauchen können.

Wollten Sie schon als Kind Supermarkt-Besitzer oder Profifußballer werden?

Stanislawski: Nein, ich wollte als Kind Meeresbiologe werden.

Im Ernst?

Stanislawski: Ja, aber als ich größer wurde, war es so: Da, wo ich im Wasser nicht mehr stehen konnte, ging das Gestrampel bei mir los. Das ist schlecht für einen Meeresbiologen. Dann wollte ich was mit Dinosauriern machen, aber die gibt’s ja nun auch nicht mehr. Schließlich wollte ich Rehabilitationstrainer werden und den Sportlern nach einer Verletzung wieder auf die Beine helfen.

Nun haben Sie einen Supermarkt, zusammen mit Ex-HSV-Profi Alexander Laas. Zumindest ein bisschen Dino also.

Stanislawski: Wir werden den HSV und St. Pauli in den Supermarkt integrieren.

Wie das?

Stanislawski: Wir sind ja erst ab 30. Oktober offiziell als Geschäftsführer im Amt. Aber schon jetzt arbeiten wir zehn, zwölf Stunden am Tag. Wir lernen die Mitarbeiter kennen, führen Personalgespräche, besuchen Rinderhöfe im Umland, von denen wir eventuell Produkte bei uns verkaufen werden. Wir haben 40.000 Artikel, 6000 Quadratmeter Fläche, 120 Mitarbeiter – und viele Ideen. Eine davon ist eine Ruhezone im Laden. Und die wollen wir als kleines Stadion gestalten. Mit Bänken, Torwand und Fanartikeln.

Sind Sie mit dem neuen Job auch finanziell ins Risiko gegangen?

Stanislawski: Ja, das schon. Aber es ist so wie beim Derby gegen den HSV, als ich zur Überraschung aller Benedikt Pliquett ins Tor gestellt habe und wir auch dank seiner Leistung gewonnen haben: Ich denke nie in Risiken, sondern immer in Chancen.

Hat Fabian Boll eine Chance, einmal ein Bundesligatrainer zu werden?

Stanislawski: Das wird sich zeigen. Auf jeden Fall ist es gut, dass er mit der Polizei noch ein zweites Standbein hat...

Boll:...dazu hast du mir ja auch immer geraten. Du hast immer gesagt, ich solle bloß nicht den Job aufgeben...

Stanislawski:...weil es hilft, wenn man neben dem Fußball das normale Leben nicht aus den Augen verliert. Wenn man weiß, wie es ist, seine Rechnungen zu bezahlen und mit 2500 Euro im Monat auszukommen – und nicht mit 20.000.

Boll: Für mich sind das jetzt Übergangsjahre, um entscheiden zu können, ob ich voll in den Trainerjob einsteige.

Wie wird man ein guter Trainer?

Stanislawski: Das ist alles kein Hexenwerk. Technik, Training, Athletik, Spielsystem – darin unterscheiden sich die Trainer nicht besonders. Entscheidend ist eines: Die Mannschaft muss an das glauben, was du ihr sagst.

Boll: Es geht beim Fußball sehr viel um Emotionalität. Das kommt in den Lehrbüchern aber oft zu kurz oder gar nicht vor. Am besten ist es, wenn die Spieler nach der Ansprache des Trainers so heiß sind, dass sie am liebsten durch die geschlossene Kabinentür stürmen würden, um mit dem Anpfiff den Gegner niederzurennen.

Mit dem Willen kann man also spielerische Defizite mehr als ausgleichen?

Boll: Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich es bis in die Erste Liga schaffe.

Was vermisst man am meisten, wenn man dem Profifußball den Rücken kehrt?

Boll: Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sagt: Was bin ich froh, dass ich jetzt nicht wieder los muss zum Training. Die Wehmut über den Abschied hält sich in Grenzen, aber ich blicke mit Stolz und Zufriedenheit auf die Jahre zurück. Neulich habe ich mir noch einmal unser gewonnenes Zweitliga-Heimspiel gegen Hoffenheim (3:1) aus dem April 2008 auf Video angeschaut. Was war das für ein Tempo! Da musst du Realist sein: Das würde ich heute nicht mehr auf die Kette kriegen.

Sie werden gar nichts vermissen?

Boll: Doch, das gemeinsame Sitzen mit den Jungs in der Kabine. Das Flachsen, das Unsinn-Reden, das Warten, bis es endlich raus geht. Auf dem Rasen gibt es keinen, der denkt: Boah, wenn wir gewinnen, gibt es 5000 Euro obendrauf. Letztlich geht es nur darum: Du willst mit deinen Jungs raus und gewinnen. Aus. Und wenn du dann nach einem Auswärtssieg von Krämpfen geplagt, aber glücklich grinsend im Bus sitzt – das ist es. Und das werde ich vermissen.

Stanislawski: Das, was man früher verflucht hat, vermisst man. Den Adrenalinkick, das permanente Auf und Ab. Am Spieltag geht’s ja nicht nur um die 90 Minuten. Morgens geht’s los, wenn die erste Kanne Kaffee durchläuft. Du holst den Co-Trainer aus dem Bett, besprichst letzte Positionen. Du hörst Musik, tanzt mit dem Hund auf der Couch und hast das Gefühl, eine Palette mit Waschmaschinen irgendwo hintragen zu können. Dann der Weg zum Stadion. Die ersten Zuschauer klopfen an die Scheibe, rufen: „Heute müsst ihr mal wieder gewinnen!“ Die Mannschaftsansprache mit Puls 200, danach könntest du dich direkt eine halbe Stunde hinlegen. Dann 50.000 Schals in Köln beim Lied oder „Hells Bells“ am Millerntor, da stellen sich alle Haare auf. Ich habe meinen Co-Trainern oft gesagt: Das kriegt ihr für kein Geld der Welt. Das ist einmalig. Saugt das bloß auf!Karten für „Bollzen“ (11. Oktober) im St.-Pauli-Kartencenter oder im Internet (fcstpauli.com).