Pliquett, Morena und Boll spielen seit mehr als acht Jahren gemeinsam für Braun-Weiß. Drei Sozialromantiker, die ihren Klub am Scheideweg sehen.
Hamburg. Sie sind die Veteranen des FC St. Pauli. Fabian Boll, 32, nebenberuflich Oberkommissar bei der Hamburger Polizei, Fabio Morena, 32, Innenverteidiger italienischer Abstammung, und Benedikt Pliquett, 27, Torhüter und Freund der Ultras, sind ihrem Klub seit zehn, neun und achteinhalb Jahren treu. 2011 verließen Florian Lechner und Marcel Eger nach sieben Jahren den Verein. Dass so viele Profis über einen so langen Zeitraum bleiben, ist einzigartig im deutschen Profifußball. Ein Gespräch vor dem brisanten Derby gegen Hansa Rostock - über verlorene Herzen, Fußballer als Unternehmer und den Charme des FC St. Pauli.
Hamburger Abendblatt: Herr Boll, Sie sind seit 2002 bei St. Pauli. Was macht eigentlich Ihr Berater?
Boll: Ich habe seit drei Jahren einen und brauche ihn vor allem für das Kleingedruckte. Es geht nicht ums große Pokern, sondern um juristische Aspekte.
Woran liegt es, dass Spieler nur noch selten so lange bei einem Verein bleiben?
Morena: Wir haben hier eine besondere Konstellation vorgefunden. In den vergangenen Jahren kamen immer Spieler, die - wenn man so will - woanders gescheitert sind. Wir haben uns gefunden. Eine Mannschaft, die zusammenhält, wie es selten ist, die parallel auch sportlich Erfolg hat. Das ist etwas ganz Besonderes. Es gibt Spieler, die in der Bundesliga spielen, indem sie mit dem Verein aufsteigen. Andere haben individuelle Qualität und steigen individuell auf.
Boll: Ab einem bestimmten Level ist es normal, dass es einen entsprechenden Durchlauf gibt und dass man eben nicht mehr mit einem so großen Kern über Jahre hinweg zusammenspielt. Die Vereine werden immer mehr zu Wirtschaftsunternehmen, da ist es selbstverständlich, dass die Spieler sich dahin orientieren, wo sie am meisten Geld verdienen. Mir wäre es das aber nicht wert gewesen, für 5000 Euro mehr im Monat hier alle Zelte abzubrechen.
Hatten Sie nie das Bedürfnis, mal etwas anderes zu sehen?
Pliquett: Ich habe immer mal mit dem Gedanken gespielt, weil ich natürlich den Drang habe zu spielen. Es waren oft schwere Zeiten. Aber ich habe immer daran geglaubt, es packen zu können. Und wenn ich in eine andere Stadt gehen würde, dann hätte ich keine Familie, keine wahren Freunde mehr um mich. Und ich frage mich, ob man dann die gleiche Leistung bringen kann.
Also ist die Liebe, die Verbundenheit zum Verein größer als die Frustration?
Pliquett: Ja, die Vorstellung, in einer anderen Stadt zu sitzen ...
Morena: Bei Rot-Weiß Oberhausen! (Gelächter)
Pliquett: ... und vielleicht auch in Oberhausen nicht zu spielen, da hätte ich dann bestimmt richtig Freude.
Die Philosophie des Vereins geht dahin, Spieler aus Hamburg zu binden. Ist das der Grundstein dafür, dass Spieler über einen längeren Zeitraum bleiben?
Pliquett: Ich bin der festen Überzeugung, dass jemand, der mit Herz dabei ist und sich wohlfühlt, immer eine bessere Leistung abruft als einer, der nur hier ist, weil er Fußball spielen kann.
Boll: Unser Werdegang zeigt das ganz gut. Ich glaube nicht, dass der Verein den Weg gegangen wäre, wenn er uns Spielern am Arsch vorbeigegangen wäre. Wir waren nicht berühmt für unsere individuelle Klasse, aber wir haben über den Zusammenhalt viel kompensiert.
Söldnertruppe - ein Fremdwort auf St. Pauli?
Pliquett: Bis jetzt noch, ja. Aber wir müssen aufpassen. Leider werden auch diese Saison wieder Spieler, die schon lange da sind, den Verein verlassen. Und wir haben jetzt schon den einen oder anderen Patienten, der das Ganze nur unter dem Aspekt sieht, Geld zu verdienen. Wir müssen aufpassen, dass wir Leute bekommen, die klar in der Birne und nicht beratungsresistent sind.
Welche Rolle spielt der Erfolg?
Morena: Er ist ein bisschen die Kehrseite der Medaille. Um sich zu etablieren und nach oben zu entwickeln, holt man Spieler, die schon ein paar Jahre Profierfahrung haben. Doch umso weiter es nach oben geht, desto mehr ist der Fußballer auch ein Unternehmer für sich. Es wird dann schwieriger, aufrechtzuerhalten, was wir die letzten Jahre hatten. Ich glaube, davon muss man sich auf lange Sicht verabschieden.
Boll: Mir tut das in der Seele weh. Dafür bin ich zu sehr Sozialromantiker. Am liebsten würde ich die ganze Zeit mit meinen Jungs, mit den Egers, Lechners und Guneschs zusammenspielen. Das gibt einen ganz anderen Kick. Und ich finde es generell unfair, wenn man Spielern nicht die Chance gibt, sich auch eine Liga höher zu beweisen.
Da sind Sie ja auch ein Paradebeispiel.
Boll: Eben. Ich musste mir jedes Jahr anhören: Der Boll ist doch kein guter Fußballer, jetzt ist Schluss. Mittlerweile spiele ich aber mit Jungs zusammen, mit U-21-Nationalspielern, die fußballerisch alles auf der Palette haben. Da denke ich manchmal: Alter, dein Können mit meinem Willen, und ich würde nur noch Mittwochabends spielen, wenn der große Fußball läuft.
Kann der Verein Nachwuchsspielern die gleichen Chancen bieten wie Ihnen?
Morena: Die Anforderungen sind natürlich höher. Der Verein und die sportliche Leitung stehen vor einer schweren Aufgabe. Sie müssen die richtigen Charaktere finden und - ganz wichtig - den Jugendbereich so anpassen, dass der Sprung in die erste Mannschaft vollzogen werden kann und man genug Talente hat, die letztlich dann auch wieder mit dem Herzen dabei sind.
Boll: Wir hatten die Möglichkeit, eine Entwicklung durchzumachen. Wenn ich mit 20 in die Zweite Liga eingestiegen wäre, wäre ich hoffnungslos überfordert gewesen, und man hätte mich wahrscheinlich weggeschickt. Dazu kommt die Philosophie, nach einem Aufstieg eben nicht die komplette Mannschaft auszutauschen. Die Spieler haben durch die gemeinsamen Erfolge ihr Herz an den Klub verloren. Ich glaube, jeder, der hier dabei war, wird sagen: St. Pauli war die schönste Station meiner Karriere. Jetzt ist aber eine Phase, da der Verein am Scheideweg steht. Unsere Aufgabe ist es, den Spirit weiterzugeben, denen zu zeigen, dass es bei St. Pauli, so wie wir es kennengelernt haben, um mehr geht als nur um Erfolg.
Könnte der Verein durch den Umbruch, den er vollzieht, an Charme einbüßen?
Pliquett: Der Verein als solcher besteht nicht aus der Mannschaft, sondern aus den Leuten, die weltweit den Verein im Herzen tragen und dafür sorgen, dass er so bleibt, wie er ist. Es gibt Tausende, die viel länger hier mit ihrer Dauerkarte ans Millerntor gehen als wir für den Verein spielen. In zehn Jahren reden die vielleicht beim Bier noch über uns.
Morena: Der Verein wird nicht den Charme verlieren, aber die Mannschaft vielleicht. Entscheidend wird sein, was die Fans in der Mannschaft sehen.
Die Fan-Klientel wandelt sich auch.
Pliquett: Ja, weil der Verein gewachsen ist. Um nachhaltig in die Top 25 zu kommen oder auch längerfristig in der Bundesliga zu spielen, musst du halt auch den Weg der Wirtschaftlichkeit mitgehen. Dementsprechend hast du natürlich auch eine andere Klientel auf der Haupttribüne sitzen. Aber die Anzahl der Dauerkartenbesitzer bleibt jedes Jahr gleich, das sind auch dieselben Leute. Und die prägen den Verein.
Morena: Das Stadion ist ein gutes Beispiel. Viele hatten Angst davor. Aber man hat den Schritt gewagt. Und wenn das Stadion komplett fertig ist, dann wird man sich immer gerne an das alte Millerntor erinnern, aber man wird auch furchtbar stolz sein.
Pliquett: Uns erfüllt das jetzt schon mit großem Stolz, ins Millerntor einzulaufen, weil wir - das haben viele vergessen, und das geht mir manchmal richtig auf die Nerven - über Jahre mit viel Willen, mit viel Herz dazu beigetragen haben, den Verein zu sanieren. Dazu gehören natürlich auch die Leute, die das Geld richtig zu verwenden wissen.
Boll: Bene hat völlig recht. Zugleich haben wir die Arschkarte, weil es heißt, hm, euer Etat, da können wir nicht so viel zahlen, weil wir ja das Stadion bauen. Aber auch das ist ja nachvollziehbar.
Es muss irgendetwas geben, das euch nervt an St. Pauli. Was ist das?
Morena: Nicht viel. Wenn überhaupt, dann dass sich angekündigte Veränderungen oft wahnsinnig hinziehen.
Boll: Wenn du bei St. Pauli unterschreibst, dann musst du damit rechnen, gegen Widerstände anzukämpfen.
So etwas formt doch auch den Charakter.
Boll: Ja, sicher. Für uns ist das auch ein Running Gag. Wenn kaltes Wasser aus der Dusche kommt, ist es Kult, wenn der Bus nicht kommt, ist es Kult.
Verdiente Spieler werden oft in den Verein integriert. Eine schöne Vorstellung?
Boll: Ja, Bene wird auf jeden Fall Sicherheitsbeauftragter. (Gelächter)
Morena: Wenn Spieler jahrelang in einem Verein waren, dann ist schon mal die Grundvoraussetzung erfüllt, dass sie wirklich mit dem Herzen dabei sind. Wichtig ist aber vor allem, dass sie sich im vorgesehenen Bereich weiterbilden.
Können Sie schon sagen, wie es bei Ihnen weitergeht? Ein Angebot, im Verein tätig zu werden, soll im Raum stehen.
Morena:
Ich will noch zwei, drei Jahre auf hohem Niveau Fußball spielen. Letztlich habe ich das aber im Hinterkopf, weil ich mich in Hamburg sehr wohlfühle und bei St. Pauli meine Karriere gehabt habe und auch gerne beenden würde. Man wird sehen, was die nächsten Wochen bringen.
Herr Boll, Sie dann lieber als Polizei- oder Vereinspräsident?
Pliquett: Das könntest du doch beides machen, Boller. Das eine machst du ja ehrenamtlich.
Boll: Klar habe ich Interesse, dem Verein erhalten zu bleiben. Ich habe aber keinen Masterplan und wüsste auch nicht, in welcher Funktion das sein sollte. Der Verein hat signalisiert, dass man eine Verwendung finden würde.
Was machen Sie am 15. Mai (Rückspiel in der Relegation, d. Red.)?
Boll: Testspiel in Uetersen, glaube ich. (Gelächter) Und wir feiern natürlich Geburtstag, den 102.
Haben Sie sich schon mal ausgemalt, was passiert, wenn es in der Relegation doch noch gegen den HSV gehen sollte?
Pliquett: Im Moment steht es nicht zur Debatte. Für die Karriere wäre es sicher superinteressant, mal eine Relegation zu durchleben, aber auf dem Niveau, gegen den HSV? Da kann mir der erfahrenste Profi sagen, was er will, da ist Windelalarm angesagt.
Boll: Neun Tage Ausnahmezustand.
Morena: Dann brennt im übertragenen Sinn die Stadt. Aber ich würde es unterschreiben. Wir hätten nichts zu verlieren. Wenn der HSV durch uns in die Zweite Liga absteigen würde, das würde alles Dagewesene toppen.
Pliquett: Absolut. Für uns wäre es das Größte, was es gibt. Da kommen wir wieder zum Punkt. Wir haben immer noch fünf, sechs Spieler auf dem Feld, die das fühlen, die das im Herzen tragen. Und auf der anderen Seite?