Hamburg. Warum der Kiezclub vor dem Stadtderby wie gewohnt auf Geheimtraining setzt und der Rivale als einziger Verein darauf verzichtet.
Am Dienstagmorgen wurde Hanna Kluge mit einer Überraschung geweckt. Am zweiten Tag der Herbstferien fuhr die Neunjährige zusammen mit ihrem Vater Patrick, Mutter Vanessa und der kleinen Schwester Lana (3) zum HSV-Training. Den Wetterbericht hatte die Familie aus Kuden bei Wacken in Schleswig-Holstein noch überprüft. Ob die Einheit ihres Lieblingsclubs auch vor Fans ausgetragen wird, mussten die Eltern dagegen nicht checken.
Beim HSV sind Zuschauer unter Trainer Tim Walter seit dieser Saison bei jeder Einheit erlaubt und erwünscht – ein Alleinstellungsmerkmal im deutschen Profifußball. Rund 200 Fans, darunter viele Kinder, kamen am Dienstag, also drei Tage vor dem Stadtderby beim FC St. Pauli, zum ersten Training der Woche in den Volkspark. „Für die Kinder ist das hier sehr schön gemacht. Man ist nah dran, auch die Spieler sind sehr fannah“, sagt Patrick Kluge, während sich seine Tochter schon vor dem Training ein Autogramm von Kapitän Sebastian Schonlau sichert.
Stadtderby: FC St. Pauli setzt auf Geheimtraining
Sechs Kilometer weiter nordöstlich trainierte am Dienstag zur gleichen Zeit der FC St. Pauli. Auch an der Kollaustraße durften Fans zuschauen. Rund 50 Anhänger nutzten die Chance zu sehen, wie Trainer Timo Schultz sein Team auf das Stadtderby vorbereitet. Es war die erste und zugleich letzte Chance der Woche.
Bis zum Anpfiff am Freitagabend (18.30 Uhr) am Millerntor trainiert St. Pauli geheim unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So macht es der Verein schon seit mehreren Jahren. Zunehmend aber schottet sich der Kiezclub auch mit Sichtschutzplanen ab, die erst vor wenigen Wochen erneuert wurden. Dazu gibt es seitdem eine weitere Plane, die auch den Blick vom großen Eingangstor am Langenhorst auf die beiden Rasenplätze weitgehend verhindert.
Anhänger des FC St. Pauli genervt
Während der HSV mit seiner Offenheit von den Fans viel Zuspruch erhält, sind die wenigen Anhänger des FC St. Pauli, die seit Jahren zum Training kommen, genervt. „Ich halte diese Maßnahme, das Publikum nicht zuzulassen, für völlig unnötig“, sagt Klaus Meinel, langjähriger Fan und regelmäßiger Trainingskiebitz an der Kollaustraße. „Wenn man insgesamt schon beklagt, dass sich die Fußballprofis immer weiter von der Basis entfernen, dann muss man gerade als FC St. Pauli das nicht in der Form mitmachen, dass man die Trainingsplätze immer mehr zuhängt und teilweise geheim trainiert.“
St. Pauli folgt dabei einer Entwicklung, die den gesamten Fußball betrifft. Immer mehr Trainer legen Wert darauf, bei ihren Einheiten nicht beobachtet zu werden. Insbesondere seit der Zeit von Pep Guardiola beim FC Bayern München. Der Spanier wunderte sich nach seinem Amtsantritt 2013, dass es in München öffentliche Einheiten gab, und ließ direkt riesige Planen aufhängen.
HSV-Trainer Tim Walter gibt sich gerne fannah
Der aktuelle FCB-Coach Julian Nagelsmann bekam von seinem Club sogar den Wunsch erfüllt, einen eigenen Platz nur für geheime Trainingseinheiten zu errichten – aus Angst vor Spionen, die seine taktischen Anweisungen trotz des Sichtschutzes hören könnten. Trainingseinheiten mit Fans gibt es bei den Bayern oder auch bei Borussia Dortmund im Schnitt nur noch alle zwei Wochen.
HSV-Trainer Tim Walter arbeitete zwar schon zu Guardiolas Zeit im Nachwuchs des FC Bayern, die Methode der Abschottung hat der 46-Jährige aber nicht übernommen. Im Gegenteil. Walter gibt sich gerne fannah, genau wie Sportvorstand Jonas Boldt. Dass der HSV die Zuschauer selbst zum Abschlusstraining vor den Spielen einlädt, ist ihre gemeinsame Entscheidung. Im Gegensatz zu anderen Trainern lässt Walter aber auch nie mit seiner vermeintlichen Startelf üben. Dass Scouts gegnerischer Clubs seine taktischen Anweisungen oder Standardvarianten sehen und hören könnten, ist ihm egal.
Trainer gingen bei letzter Spielform ins Stadion
Das war beim HSV aber auch nicht immer so. Einzig Christian Titz, in elf Tagen mit dem FC Magdeburg zu Gast im Volkspark, machte es in den vergangenen Jahren ähnlich wie Walter. Andere Cheftrainer wie Dieter Hecking oder Markus Gisdol mochten es gar nicht, wenn rund um die Trainingsplätze im Volkspark bei den Abschlusseinheiten Beobachter unterwegs waren. Nicht selten gingen die Trainer bei der letzten Spielform der Woche ins Stadion. Unter Gisdol versuchten die Ordner sogar mal, Medienvertretern mit Regenschirmen die Sicht zu versperren.
Auch beim FC St. Pauli wird gut aufgepasst, dass bei den letzten Einheiten vor dem Stadtderby keine Zuschauer in der Nähe sind, die bei der Vorbereitung auf das Spiel stören könnten. „Ich kann nicht verstehen, was für Geheimnisse in den nicht öffentlichen Einheiten erarbeitet werden sollen“, sagt St.-Pauli-Fan Klaus Meinel. „Das beziehe ich auch gar nicht auf das anstehende Derby, sondern meine es ganz grundsätzlich. Feinheiten kann man ohnehin nicht erkennen, wenn die Mannschaft auf dem hinteren Platz trainiert. Bedauerlich ist zudem, dass wir hier keine Möglichkeit mehr haben, sich bei schlechtem Wetter aufzuwärmen und einen Kaffee zu trinken.“
Robert Glatzel beendete Training vorzeitig
Vor der Corona-Pandemie war das immer noch bei Birgit Hönig möglich. Doch das kleine Café mit der beliebten Wirtin ist jetzt beim Nachwuchsleistungszentrum am Brummerskamp angesiedelt. Der kleine Raum war für die Kiebitze auch ein sozialer Treffpunkt. Sitzgelegenheiten oder Toilette gibt es seitdem nicht mehr.
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Beim HSV fehlt so eine Einrichtung schon seit Jahren. Trotzdem kommen immer noch zahlreiche Fans zu den Einheiten, auch außerhalb der Ferienzeiten. Am Dienstag konnten sie sich über Selfies und Autogramme von Jean-Luc Dompé und Daniel Heuer Fernandes freuen, die wieder mit der Mannschaft trainierten. Einzig auf Fotos mit Robert Glatzel mussten die Anhänger verzichten. Der Stürmer beendete das Training wegen leichter Rückenbeschwerden vorzeitig und verließ den Platz über einen hinteren Ausgang.
Stadtderby: „Jetzt fehlt nur noch der Derbysieg“
Familie Kluge aus Kuden war trotzdem glücklich. Die kleine Hanna sicherte sich am Ende noch ein Autogramm von ihrem Lieblingsspieler Sonny Kittel. „Sie hat sich sehr gefreut“, sagte Vater Patrick. „Jetzt fehlt nur noch der Derbysieg.“