Hamburg. Bei der Sitzung sollen auch die Vorwürfe gegen Vorstand Thomas Wüstefeld Thema gewesen sein. Der wiederum hatte Lust auf Klartext.
Am Abend hatte Thomas Wüstefeld das Bedürfnis, Klartext zu sprechen. Der HSV-Vorstand nahm in größerer Runde kein Blatt vor den Mund. Alles kam auf den Tisch. Allerdings nicht am Donnerstagabend bei der Aufsichtsratssitzung.
Sondern bereits am Mittwochabend, als der 53-Jährige beim sogenannten Tankstellen-Talk im Sportpub auf dem Kiez gemeinsam mit Supporters-Chef Sven Freese und Ultra Jannik von den Castaways zu Gast war und sich den Fragen der Fans sehr launig stellte.
HSV-Vorstand Wüstefeld nennt Bürgermeister Tschentscher „obersten Sheriff“
Das Frischgezapfte kostete zwei Euro, im Hintergrund lief die Wiederholung des HSV-Testspiels vom Nachmittag gegen Hajduk Split (2:2), und Wüstefeld präsentierte sich in Bestform. Der HSV-Macher berichtete den lauschenden Anhängern vor Ort und live im Instagram-Orbit, wie er selbst zum Fan wurde („Ich habe nach Bier gestunken und fand das einfach nur geil“), dass er kein typischer Anteilseigner sei („Ich fühle mich nicht als Investor. Ich fühle mich als Fan und als einer von euch“) und bezog auch zu delikaten Themen wie dem Zuschauerverbot in der Corona-Zeit oder den Strafgeldern des DFB für Pyrotechnik klar Stellung.
Bürgermeister Peter Tschentscher nannte er „den obersten Sheriff“, der in der Corona-Zeit alles und jeden weggesperrt habe, und Neu-DFB-Präsident Bernd Neuendorf sei der „Obermeister vom DFB“. Die Pyro-Strafgelder seien nicht nachvollziehbar, und bei „den Jungs in Frankfurt“ müsse er mal ordentlich auf den Tisch hauen: „Ich dachte, die wollen mich verarschen.“
Am Abend danach dürfte Wüstefeld eine etwas weniger derbe Sprache gewählt haben. Auf der Aufsichtsratssitzung, für die Vorstandskollege Jonas Boldt mittags extra aus dem Österreich-Trainingslager eingeflogen kam, sollte es eigentlich um den finanziellen Spielraum für Sommertransfers gehen, um die von der Uefa geforderten millionenschweren Sanierungsarbeiten am Stadion und um Investor Detlef Dinsel, der ab sofort den Aufsichtsrat verstärken soll, schon bald auch Anteile von Klaus-Michael Kühne übernehmen will und so in die Riege der Gesellschafter aufrücken wird. Doch nachdem das Abendblatt bereits am Mittwochabend – nur wenige Minuten vor dem Beginn des Tankstellen-Talks – online den Artikel „Millionenforderung und Vorwürfe gegen Thomas Wüstefeld“ veröffentlichte, dürfte die ursprüngliche Tagesordnung der Donnerstagssitzung hinfällig gewesen sein.
Wie geht es für Wüstefeld nach der Aufsichtsratssitzung weiter?
Die Vorwürfe noch einmal in Kurzform: Mehrere Unternehmen berichteten von Millionenforderungen und nicht gelieferten Waren. Wüstefeld erhebt gegen einen dieser Kunden seinerseits Forderungen und bestreitet die Vorwürfe vehement. Genauso wie die persönlichen Angriffe früherer Mitarbeiter, die den Unternehmer in WhatsApp-Nachrichten schwer anschuldigten: Es gehe darum, gutgläubige und ehrbare Menschen davor zu schützen, „von Dr. Wüstefeld skrupellos belogen, nachhaltig getäuscht, hintergangen, ausgetrickst und dann ausgenommen und beklaut zu werden.“
Wüstefeld sagte, dass er „diese unsachlichen Anschuldigungen wohl einer ehemaligen Führungskraft“ gegebenenfalls dem früheren Mitarbeiter persönlich erläutern würde. Das Insolvenzverfahren gegen eine seiner vielen Firmen räumte er dagegen ein, sprach aber davon, dass diese Firma „kontrolliert in die Insolvenz gesetzt“ worden sei. Und auch, dass sein PCR-Testgerät, das Ultra SBMS 16, nicht seine Erfindung, sondern ein Produkt einer australischen Firma sei, bestätigte er.
Nichts davon hat etwas mit dem HSV zu tun. Und trotzdem bleibt die Frage, wie es nach der Berichterstattung vom Donnerstag nun mit Wüstefeld und dem HSV weitergeht. Ob der Aufsichtsrat beim Plan bleibt, zeitnah mit dem bisherigen Pro-bono-Vorstand einen vergüteten Vorstandsvertrag aufzusetzen, ist nach Abendblatt-Informationen fraglich. Zur Erinnerung: Ursprünglich hatte der Aufsichtsrat vor, sowohl mit Wüstefeld als auch mit Sportvorstand Jonas Boldt, dessen Vertrag im kommenden Sommer ausläuft, bald zu verlängern. Für Wüstefeld soll ein Dreijahresvertrag im Gespräch gewesen sein.
Klaus-Michael Kühne lobte vor Kurzem noch Wüstefeld
Eine Überlegung, die bislang vor allem auch von Anteilseigner Klaus-Michael Kühne unterstützt wurde. Der hatte noch vor Kurzem auf der Homepage des HSV gelobt: „Mit Dr. Wüstefeld hat ein Mann die Führung der HSV Fußball AG übernommen, der mit ebenso viel Umsicht wie Tatendrang zu Werke geht. Das eröffnet unserem HSV ganz neue Perspektiven: Schwung im Management sollte auch der Mannschaft mehr Elan und Qualität verleihen.“
Auf Nachfrage des Abendblatts, ob Kühne auch nach der Lektüre des Artikels dabei bleibe, dass Thomas Wüstefeld der richtige Mann für den Neuaufbau des HSV sei, ließ der Wahl-Schweizer lediglich höflich ausrichten, dass er keine Stellungnahme dazu abgeben wolle.
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Wie schnell im Internetzeitalter eine Diskussion an Fahrt aufnehmen kann, zeigt aber auch das Beispiel von Kununu. Die unabhängige Internetplattform ist ein Bewertungsportal, das sich auf Firmen und Unternehmen spezialisiert hat und für mehr Transparenz am Arbeitsmarkt sorgen soll.
Und so dauerte es am Donnerstag nicht lange, ehe die Bewertungen der Wüstefeld-Firma sanPharma virtuell die Runde machten. Mit Ausnahme von einer Vier-Sterne-Bewertung („Kollegenzusammenhalt: Das einzig Gute, bei der ständig wechselnden Belegschaft jedoch nicht gesichert“) fanden sich hier nur harsche Ein-Stern-Kritiken wieder: „Katastrophal, man muss sich regelrecht zur Arbeit zwingen“, schrieb einer, ein anderer wurde ähnlich deutlich: „Reine Katastrophe.“
Wie geht es für Wüstefeld weiter – Stimmung auf der Geschäftsstelle kippt
Auch das hat natürlich nichts mit dem HSV zu tun. Trotzdem dürfte man die Arbeitsatmosphäre auf der Geschäftsstelle im Volkspark zuletzt sehr ähnlich bewertet haben. Vor Kurzem gab es auch eine emotionale Betriebsversammlung, auf der Wüstefeld zum „Sport Bild“-Artikel, dass 125 Mitarbeiter um ihren Job fürchten müssten, Stellung bezog.
Doch besonders innerhalb der HSV-Führung stimmte es bereits seit Wochen so gar nicht. Die Vorstände Wüstefeld und Boldt sprechen nur noch das Nötigste miteinander. Das Gleiche gilt für Boldt und Sportdirektor Michael Mutzel, den der Sportvorstand öffentlich diskreditiert hatte, und für Boldt und Aufsichtsratschef Marcell Jansen.
Der wollte sich auf Abendblatt-Nachfrage am Donnerstag nicht zu den Forderungen und Vorwürfen gegen Wüstefeld äußern. Vor einem Monat sagte er in einem Interview mit der eigenen HSV-Presseabteilung: „Beide Vorstände haben in der jüngsten Aufsichtsratssitzung betont, wie gut die Zusammenarbeit klappt. Bei Jonas Boldt haben wir darüber hinaus auch hinterlegt, dass wir uns eine Verlängerung der Vertragslaufzeit vorstellen können.“
Darüber und auch über die langfristige Zukunft von Interimsvorstand Wüstefeld muss sich ab sofort auch Detlef Dinsel seine Gedanken machen. Der frühere Aufsichtsrat und Anteilseigner des FC Augsburg war am Donnerstagabend zum zweiten Mal bei einer HSV-Aufsichtsratssitzung persönlich anwesend. Einmal als Gast, nun als Aufsichtsratskandidat. Denn nach einem abschließenden Vorgespräch am Dienstag, bei dem auch Wüstefeld zugegen war, sollte sein Einstieg ins HSV-Kontrollgremium am Abend ab 18 Uhr in der Berenberg Bank am Neuen Jungfernstieg offiziell gemacht werden. Ob dem Neu-Kontrolleur im Anschluss ähnlicher Klartext wie am Mittwochabend auf dem Kiez präsentierte wurde, ist dagegen nicht bekannt.