Doha. Der Ex-HSV-Stürmer und seine Familie leben seit drei Jahren in Doha. Sie respektieren die Kultur, üben aber auch Kritik.
Als Pierre-Michel Lasogga im Mai 2019 den entscheidenden Anruf aus der Ferne erhielt, musste der Fußballer erst einmal den Familienrat einbestellen. Die Pro- und Kontra-Liste für seine Zukunftsentscheidung war schnell gemacht. Auf der Pro-Seite: Die Sicherheit eines Dreijahresvertrags. Ein fast schon obszönes Jahresgehalt von dem Vernehmen nach 3,3 Millionen Euro. Netto. Und ein luxuriöses Leben ohne Sorgen wie in einem Märchen aus 1001 Nacht. Größtes Kontra: Katar.
„Wir hatten Katar vorher gar nicht auf unserer Landkarte“, gibt der frühere HSV-Stürmer Lasogga drei Jahre später ehrlich zu – und lässt sich in seinem Wohnzimmer neben seine Frau Salina und Sohn Joa in das Sofa fallen. Es ist kurz nach 10 Uhr vormittags. Die Klimaanlage in der Apartmentanlage des Grand Hyatt Hotels nahe der künstlichen Luxusinsel „The Pearl“ in Doha läuft auf Hochtouren. Draußen sind es 31 Grad, und drinnen sitzt Lasogga in Badelatschen, kurzer Hose, T-Shirt und erklärt, warum er das Abenteuer Wüste unabhängig vom Geld bis heute noch keinen Tag bereut hat.
„Ich habe viele Erfahrungen sammeln dürfen und eine neue Kultur für mich entdeckt“, sagt Lasogga, der vor seiner Zusage beim Katar-Club Al-Arabi im Frühling 2019 zunächst noch die Genehmigung Salinas einholen musste: „Natürlich war das auch für sie als Frau eine Überlegung, in den arabischen Raum zu gehen. Es war aber die ganze Zeit klar, dass wir nur gemeinsam als Familie hierher kommen.“
Die Lasoggas sehen Katar auch als Vorteil
Die Lasoggas also, war ja klar. Ein Jahr vor dem Katar-Wechsel erschien die vierteilige „Bild“-Dokusoap über den Clan des Fußballers, über die der „Stern“ später schrieb, dass „die Kardashians aus dem Pott genauso peinlich wie faszinierend“ seien. Gezeigt wurde beispielsweise, wie Lasogga in seinem Sportwagen sitzt und zu Wolle Petrys Evergreen „Ruhrgebiet“ mitsingt. Auch Mama Kerstin ließ sich in ihrem Ferrari filmen, Schwester Jenny schminkte sich für einen Familienausflug und Freundin Sally schwärmte: „Ich gehöre richtig dazu.“
Freundin Sally heißt eigentlich Salina, ist mittlerweile Lasoggas Ehefrau und spricht im fernen Doha keineswegs über Ferraris oder Schminktipps. Sondern über Frauenrechte, die Tücken des Fastenmonats Ramadan und die große Chance, dass auch ihre Kinder eine ganz andere Kultur kennenlernen dürfen.
„Ich finde es schön für meine Kinder, dass sie international aufwachsen und andere Kulturen und Sprachen kennenlernen“, sagt Salina, die Sohn Joa (2) auf dem Schoß hat, während Tochter Milou (4) noch in der Schule ist – die in Katar tatsächlich schon in diesem Alter beginnt. Dort würde sie ausschließlich Englisch sprechen, was auch Papa Pierre-Michel freut. „Ich spreche mit Milou Deutsch, aber sie antwortet meistens Englisch. Für sie ist das Normalste der Welt.“
Wie Lasogga mit den Regeln in Katar umgeht
Natürlich wissen auch die Lasoggas, dass sie im fernen Doha ein privilegiertes Leben führen können. In ihrem streng bewachten Viertel wohnen vor allem Fußballer, Ausländer und vermögende Araber. „Wir leben hier in Katar in einer Art Scheinwelt“, sagt Lasogga in seinem Apartment. Der Fußboden ist aus Marmor, ansonsten ist die Wohnung zweckmäßig eingerichtet. Kinderfotos hängen an der Wand, im Wohnzimmer steht ein Riesen-Flachbildschirm, auf dem der Disney-Kanal läuft.
„Doha ist wie eine große Blase“, sagt Lasogga. Um in das Villenviertel zu kommen, muss man erst einmal an der Security vorbei. Die Wächter bestehen auch beim Abendblatt-Besuch zunächst darauf, dass man keine Kameras in die Wohnanlage mitnehmen darf, ehe Salina interveniert. Nach drei Jahren kennt sie sich aus. Salina erzählt, dass sie kürzlich nicht einmal Heliumgas-Luftballons für einen Kindergeburtstag nach Hause mitnehmen durfte. Sie fuhr dann mit dem Auto in das Einkaufszentrum, das direkt gegenüber der Wohnanlage liegt, kaufte dort trotzdem die Ballons, versteckte diese im Kofferraum und passierte anschließend lächelnd die Schranke zu ihrem Viertel. Not macht erfinderisch.
„An die Regeln hier musste man sich zwar erst einmal gewöhnen, aber das gehört dazu. Man muss das respektieren“, sagt Lasogga. Dabei sind Luftballons noch das geringste Problem. Katar gilt als eines der strengsten Länder der Welt, der Islam ist Staatsreligion, die meisten Bürger sind strenggläubige sunnitische Wahhabiten. Als Nicht-Muslim muss man sich da im Alltag mitunter einschränken. „Ich würde im Restaurant als Mann hier auch eine lange Hose tragen. Das gehört sich so – und ich finde auch nichts Verwerfliches daran“, sagt der 30-Jährige, der sich auch an den Ramadan und die anderen Sitten und Gebräuche längst gewöhnt hat. „Wenn man in eine fremde Kultur kommt, dann muss man sich auch dieser ein wenig anpassen.“
Was Lasogga in Katar „wirklich schlimm“ findet
Vor zwei Wochen, am Tag der Auslosung der Fußball-Weltmeisterschaft, die im November und Dezember in Katar stattfindet, begann der islamische Fastenmonat. Am 1. Mai ist die Zeit der Abstinenz, die tagsüber nahezu das ganze Land stilllegt, vorbei. In diesem Monat darf man bis zum Sonnenuntergang weder essen noch trinken – und auch als Nicht-Muslim ist das öffentliche Leben eingeschränkt. Läden, Restaurants und sogar die Filialen der Kaffeekette Starbucks, ein Symbol des Westens, haben überall in Doha geschlossen. Und Lasogga? Zuckt mit den Schultern. Kein Problem, sagt er. Er habe sich daran gewöhnt, dass er mit seiner Mannschaft später trainiert, da sich die Kollegen nach Sonnenuntergang stärken müssen. Als Westler müsse man die Ansprüche in dieser Zeit ein wenig runterschrauben. Fertig.
Wer nun aber auf den Gedanken kommt, dass die Lasoggas in Katar extrem gutes Geld verdienen und Nebensächlichkeiten wie Menschenrechte ignorieren, der irrt. So laut, schrill und teilweise auch prollig die Familie in der „Bild“-Doku daherkam, so nachdenklich und reflektiert spricht das Ehepaar in den eigenen vier Wänden in Doha über ihre nicht ganz einfache Wahlheimat. „Ich verschließe vor nichts die Augen“, sagt Lasogga. „Natürlich kann und muss man vieles hier auch kritisch sehen.“
Die Bedingungen für Arbeitsmigranten zum Beispiel, Frauenrechte oder auch die Situation der LGBTQ-Gemeinschaft. „Natürlich kenne ich homosexuelle Menschen, wir haben auch schwule Freunde in Deutschland. Deswegen finde ich es gut, dass sich Aktivisten für ihre Rechte einsetzen“, sagt Lasogga. „Hier ist es als Homosexueller sicherlich schwierig. So etwas wird hier leider nicht gerne gesehen. Das ist wirklich schlimm. Jeder Mensch hat doch Rechte. Meiner Meinung nach soll jeder lieben, wen er oder sie mag. Jeder hat ein Recht auf Liebe.“
Lasogga ist gar nicht nur so wie in der Doku
Einerseits schätzt der Stürmer, dass all diese Themen durch die WM in den Fokus kommen. Andererseits betont Lasogga auch, dass man im Westen nicht immer nur mit dem erhobenen Zeigefinger in die Ferne zeigen sollte. „Auch in Europa gibt es Schwierigkeiten, zum Beispiel in Ungarn“, sagt er. Und die teilweise unmenschlichen Bedingungen, unter denen die WM-Arbeiter zu leiden hätten? Schlimm, sagt Lasogga. Aber auch die eigenen Probleme in der Heimat sollte man angehen. „Ich erinnere mich da an die Spargelzeit und wie die Spargelstecher aus Osteuropa untergebracht werden“, sagt der gebürtige Gladbecker.
Je länger man sich mit den Lasoggas in deren eigenem Wohnzimmer im fernen Doha unterhält, desto mehr bekommt man einen ganz anderen Eindruck als von der „Flodderfamilie“ aus der „Bild“-Serie, aus der vor allem in Erinnerung geblieben ist, wie Mutter Kerstin einen Taxifahrer in Leeds anspricht: „You make Stadtrundfahrt.“
In Katars Hauptstadt fährt die Familie gerne mit der neuen Metro, und wahrscheinlich gibt es nicht viele andere Familien, bei denen am Garagentor Fahrräder lehnen. „Wir sind hier die Einzigen, die überhaupt Rad fahren“, sagt Salina, deren Fahrrad mit Kindersitz in Doha so exotisch wie ein Kamel mitten auf den Jungfernstieg daherkommt.
Was Lasogga am HSV vermisst
In ein paar Wochen ist das Wüstenabenteuer erst einmal vorbei. Oder doch nicht? Lasoggas Vertrag bei seinem zweiten Katar-Club al-Khor SC, der am letzten Spieltag der Saison trotz seines Siegtreffers abgestiegen ist, läuft zum Ende des Ramadans aus. „Wir sind im Sommer offen für jede Option – egal ob in Europa, in den USA oder im arabischen Raum. Es ist alles vorstellbar“, sagt Lasogga.
Die Bundesliga – und auch die Zweite Liga – verfolgt der frühere HSV-Profi sehr genau. „Jeder wartet sehnsüchtig darauf, dass der HSV endlich mal aufsteigt“, sagt er. „Doch leider gibt es jedes Jahr dieses Rückrundenloch, was den Aufstieg nicht gerade einfacher macht. Trotzdem drücke ich weiter die Daumen. Der HSV hat immer einen Platz in meinem Herzen.“
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An die Zeiten, als der Torjäger noch von der ganzen Nordtribüne frenetisch gefeiert wurde, erinnert sich Lasogga wehmütig zurück. In Katar spielt er meist vor 200 bis 300 Fans – das hat sich auch durch das WM-Jahr nicht geändert. „Ich würde gerne mal wieder vor einer ausverkauften Kulisse Fußball spielen“, sagt Lasogga. „Dieser Moment, wenn man ein Tor erzielt und das ganze Stadion explodiert, dieses Gänsehaut-Feeling, das vermisst man hier schon sehr.“
Und sonst so? „Ich vermisse Regen“, sagt Lasogga lachend – und schaut in den Garten. Vieles kann man in Katar mit Geld kaufen. Waschechtes Hamburger Schmuddelwetter nicht.