Hamburg. HSV-Boss spricht im großen Interview über Personalwechsel, seine Pläne mit Anteilseignern wie Kühne und gravierende Corona-Folgen.

Marcell Jansen (36) hat Hunger. Im Eppendorfer Café & Bar Celona bestellt der Präsident des HSV eine Curry-Bowl. Er habe am Abend noch Training mit seiner Mannschaft von HSV III in Norderstedt, da wolle er nicht mit leerem Magen hin. Die Bowl wird schnell serviert – und zum Nachtisch gibt es ein Gespräch über die Personalrochaden der vergangenen Woche in der HSV AG.

Hamburger Abendblatt: Herr Jansen, im Abendblatt-Podcast „HSV – wir müssen reden“ haben wir kurz vor dem Jahreswechsel die Vereinspolitik zur Überraschung der Saison deklariert, weil es mutmaßlich so harmonisch und ruhig wie selten zuvor hinter den Kulissen schien. Haben wir da nicht gut genug aufgepasst?

Marcell Jansen: Doch. Ich würde allerdings zwischen harmonisch und ruhig unterscheiden. Hinter den Kulissen war es sehr harmonisch, was ja aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass wir nicht in Bewegung sind. Man kann aber sagen, dass wir harmonisch und ganz unaufgeregt unsere Entscheidungen getroffen haben.

Jansen: Warum Wüstefeld neuer HSV-Boss ist

Seit der Podcast-Aufnahme wurde die HSV-Führung mal wieder auf links gedreht: Frank Wettsteins Vorstandsvertrag wurde frühzeitig aufgelöst, Thomas Wüstefeld wurde in Rekordzeit vom Neu-Anteilseigner zum Neu-Aufsichtsrat, Neu-Aufsichtsratschef und nun zum Interimsvorstand befördert und Sie sind innerhalb weniger Tage hin und her zwischen Chefkontrolleur, normaler Aufsichtsrat und nun wieder Aufsichtsratsvorsitzender gesprungen. Wie erklären Sie diese Rochade?

Seit Monaten und spätestens seit der Mitgliederversammlung habe ich klar kommuniziert, dass es ein „weiter so“ beim HSV nicht geben kann. Was allerdings nicht seit Monaten klar war, ist die neue Dynamik der sich wieder verschärfenden Corona-Krise. Es ist nötig, verlässliche Gespräche mit unterschiedlichsten Partnern des HSV zu führen in denen ein Horizont über den Sommer hinaus aufgezeigt werden muss. Deswegen haben wir gemeinsam mit Frank Wettstein entschieden, seinen zum 31. Mai ohnehin auslaufenden Vertrag frühzeitig aufzulösen und Thomas Wüstefeld für ein Jahr in den Vorstand zu entsenden. Aufgrund dieser Entscheidung habe ich dann erneut den Vorsitz des Aufsichtsrats übernommen, weil ich mich der Verantwortung ebenfalls stelle.

Lassen Sie uns alles mal der Reihe nach ordnen und noch einmal nachgefragt: Warum war es für den Aufsichtsrat so wichtig, dass Frank Wettsteins ohnehin auslaufender Vertrag gegen eine Abfindung aufgelöst wird?

Wir müssen in dieser schwierigen Phase Antworten geben, die über den 31. Mai hinaus gehen. Aktuell geht es beispielsweise gerade darum, bis zum 15. März das Lizenzierungsverfahren auf den Weg zu bringen. Da stimmen wir uns – wie in jedem Jahr – regelmäßig mit Banken ab, um verlässliche Angaben zum HSV zu machen. Auch die Gespräche mit unseren Partnern und Sponsoren sind in dieser Phase extrem wichtig. Und da helfen kurzfristige Antworten nur bedingt. Man braucht mittel- und langfristige Planungen. Die kann man aber nicht gewährleisten, wenn man selbst am 31. Mai aus dem Unternehmen ausscheidet. Wir haben Herausforderungen, die größtenteils pandemiebedingt sind. Aber zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass der HSV in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren als Club nicht die solide Basis erwirtschaftet hat, um nun eine bessere Position für diese sehr schwierigen Zeiten zu haben. Die Zeiten, bei denen immer nur auf den sportlichen Erfolg gehofft wurde, sind längst überholt. Das muss sich definitiv ändern.

Jansen: HSV hat wirtschaftliche Stabilität verloren

Muss man dafür also Frank Wettstein verantwortlich machen?

Ich würde niemals jemanden die Allein-Verantwortung geben. Im Gegenteil. Frank Wettstein hat viele wichtige Entscheidungen für unseren Club gefällt. Und in den vergangenen zwei Jahren der Corona-Pandemie hat auch er gemeinsam mit Jonas Boldt für Stabilität gesorgt. Dafür müssen wir uns bedanken. Und trotzdem müssen wir uns an die Fakten halten. Und diese besagen, dass uns die wirtschaftliche Stabilität bereits vor Corona abhandengekommen ist. Wir haben uns von Millionenminus zu Millionenminus gehangelt. Das hat aber nicht ein Einziger allein zu verantworten. Keiner sollte die Augen vor den Tatsachen verschließen Wir brauchen neue Leitplanken.

Die soll nun Thomas Wüstefeld einziehen. Wie kamen Sie innerhalb des Aufsichtsrats auf die Idee, ihn zum Interimsvorstand zu bestellen?

Mit Thomas Wüstefeld übernimmt erstmals bei uns ein eigener Gesellschafter Verantwortung und geht auch mit in die Haftung. Das ist ein starkes Zeichen. Zudem macht er das ja auch noch pro bono. Das zeigt sehr deutlich, wie Thomas Wüstefeld tickt. Ein neuer Vorstand von außen würde nicht nur viel Geld kosten, sondern auch erst mal die Strukturen verstehen müssen. Ziel ist es jetzt, gemeinsam zwischen Aufsichtsrat und den Vorständen als operativer Instanz ein klares HSV-Konzept aufzustellen – und dann über die nächsten Schritte zu entscheiden.

Jansen: Wüstefeld ist nicht Hoffmann

Nachdem sich Bernd Hoffmann innerhalb kürzester Zeit vom Präsidenten über den Aufsichtsrat bis zum Vorstandschef selbst befördert hatte, wurde auch bei Thomas Wüstefeld schnell Vergleichbares befürchtet. Können Sie einen Fall „Hoffmann 2.0“ ausschließen?

Ja. Und man kann Äpfel auch nicht mit Birnen vergleichen. Auch Bernd hat sicherlich gute und wichtige Entscheidungen getroffen. Aber nur er ganz allein weiß, was sein Plan vor seinem Wechsel in den Vorstand war. Da kann sich jeder selbst seine Gedanken machen. Thomas Wüstefeld jedenfalls erhält kein üppiges Vorstandsgehalt, sondern er arbeitet pro bono. Darüber hinaus hat Thomas durch seinen Anteilskauf viel Geld investiert und sich klar zum HSV bekannt. Es ist gut und richtig, dass er als Gesellschafter näher dran ist.

Noch einmal konkret nachgefragt: Wird Thomas Wüstefeld nach dem Interimsjahr definitiv wieder zurück in den Aufsichtsrat wechseln, so wie er es ja auch intern angekündigt hat?

Wenn Thomas Wüstefeld es selbst so gesagt hat, dann wird es so auch sein! Sie fangen aber an, über Einzelpersonen zu spekulieren. Aktuell haben wir ein großes Paket zu stemmen. Wir wissen noch nicht einmal, ob wir in ein paar Wochen Zuschauer im Stadion haben oder nicht. Wir sollten uns von den Machtdiskussionen lösen und das Beste für den HSV erarbeiten.

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    Sie selbst haben vor wenigen Wochen Ihr Amt als Vorsitzender des Aufsichtsrats niedergelegt, weil Sie als Präsident des HSV genug zu tun hätten. Nun die Rolle rückwärts. Wie kam bei Ihnen der Sinneswandel zustande?

    Nach den Personalentscheidungen, über die wir ja nun schon viel gesprochen haben, werde auch ich mich der Verantwortung nicht entziehen. Mir ist aber eigentlich egal, ob auf meiner Visitenkarte Aufsichtsratsvorsitzender steht. Ich will gemeinsam im Team für den HSV Stabilität erreichen. Es ist doch logisch, dass ich interimsweise die alte/ neue Position übernehme, bis Thomas wieder zurück in den Aufsichtsrat kommt.

    Der Aufsichtsrat soll den Vorstand kontrollieren. Kontrollieren Sie jetzt also Ihren bis gerade eben Noch-Kollegen Thomas Wüstefeld?

    Ganz klar ja! Fakt ist aber auch, dass wir in dieser Krisensituation Teamplay benötigen. Wir brauchen eine gute Schnittstelle zwischen Aufsichtsrat und Vorstand, um gemeinsam die nötige Entwicklungsschritte zu gehen.

    Jansen sucht Wüstefeld-Nachfolger beim HSV

    Suchen Sie als Aufsichtsrat dann jetzt schon einen Wüstefeld-Nachfolger?

    Natürlich. Wir haben in den vergangenen Jahren viele Menschen beim HSV kommen und gehen gesehen. Schön wäre, wenn wir eine verlässliche Lösung bekämen. Dabei sollen auch die guten und wichtigen Anträge von „Unser HSV“ auf der letzten Mitgliederversammlung berücksichtigt werden. Der Profifußball dürfte sich durch Corona grundsätzlich gewandelt haben. Auch diese Fragen gilt es zu berücksichtigen. Genauso wie die Dauer-Frage nach der richtigen Rechtsform. Diese Frage kann aber sicherlich nicht 2022 abschließend entschieden werden.

    Wüstefeld hat gerade erst Anteile an der HSV AG erworben. Ist es wirklich ein gutes Signal, dass man nach einem Anteilskauf ein operatives Amt übernimmt?

    Ich finde schon. Thomas übernimmt Verantwortung. Und so ungewöhnlich ist das ja auch gar nicht. Außerhalb des Fußballs gibt es doch oft geschäftsführende Gesellschafter. Ich finde es wünschenswert, dass nicht nur Thomas als Gesellschafter näher am HSV-Kosmos ist. Das gilt für alle unsere Gesellschafter. Aus meiner Sicht haben wir das in den vergangenen Jahren versäumt. Ich möchte unsere Gesellschafter viel mehr in die Verantwortung nehmen. Dazu gehören auch unsere Fans und Mitglieder.

    Steigt neuer Finanzexperte beim HSV ein?

    Nach Angaben der „Bild“-Zeitung soll der Finanzexperte Detlef Dinsel einen ähnlichen Weg wie Wüstefeld in Erwägung ziehen. Also: Anteile kaufen und nach dem Aus von Frank Wettstein in Sachen Finanzen helfen. Nach Abendblatt-Informationen gab es lediglich das Interesse vor Monaten, Anteile von Klaus-Michael Kühne zu übernehmen. Können Sie aufklären: Wurde oder wird das von der „Bild“ beschriebene Szenario tatsächlich in Erwägung gezogen?

    Nein. Ich habe mich mit Herrn Dinsel ausgetauscht, weil er eine große Erfahrung in Sachen Fußball und Finanzen hat. Solche Gespräche führe ich aber mit vielen interessanten Gesprächspartnern, die glücklicherweise normalerweise nicht irgendwann in der Zeitung landen. Ich will gar nicht darüber philosophieren, ob Herr Dinsel Interesse an Anteilen hat. Wenn uns eine Expertise weiterbringt, dann wären wir naiv, darauf nicht zurückzugreifen. Seine und viele andere Meinungen höre ich mir sehr gerne an.

    Steigt dieser Schwabe als Investor und Finanzexperte ein?
    Als Aufsichtsrat kennen Sie alle Zahlen und wissen auch, wie prekär die finanzielle Situation für den HSV nach der erneuten Entscheidung für Geisterspiele ist. Wie prekär ist sie?

    Die Situation muss man sehr ernst nehmen, weil Ticketingerlöse immer auch ein beachtlicher Teil auf der Einnahmenseite waren und sind. Viele Menschen in Deutschland machen sich gerade mit Recht Sorgen um unsere Sportvereine. Dabei geht es nicht nur um den HSV. Es geht auch um die anderen Hamburger Clubs, um die anderen Sportarten. Und es geht auch um unsere Fußball-Mitbewerber. Es ist nicht fünf vor 12 Uhr. Es ist fünf nach 12 Uhr. Ohne Zuschauer bricht allen Clubs irgendwann die Existenzgrundlage weg.

    Wie lange kann ein Club wie der HSV ohne Zuschauereinnahmen durchhalten?

    Gute Frage. Sicher kann ich nur sagen, dass es die großen Traditionsvereine wie den HSV, Schalke, Köln und Gladbach sicherlich härter trifft als die Clubs, die ohnehin nur bedingt auf Zuschauereinnahmen angewiesen sind.

    Marcell Jansen sorgt sich um den HSV

    Ärgert es Sie, dass in einem 57.000-Zuschauer-Stadion keine Fans erlaubt sind, aber in der Elbphilharmonie?

    Ärgern ist das falsche Wort, denn Sport und Kultur sollte man nicht gegeneinander ausspielen. Wir alle brauchen eine Perspektive. Ich weiß, dass es auch für die Politik nicht einfach ist. Aber so kann es doch nicht weitergehen. Uns droht vieles wegzubrechen. Ich mache mir jedenfalls berechtigte Sorgen und Gedanken. Um unsere Clubs, um unseren Sport, um unsere Kinder. Irgendwann hat man dann vielleicht die Inzidenzen im Griff. Aber für welchen Preis? Das kann nicht mehr lange so funktionieren.

    In Hamburg haben sich der HSV, St. Pauli, die Handballer und die Basketballer von den Towers zusammengetan. Müssen die großen Verbände wie DFL und DFB ähnliche Bündnisse auf Bundesebene schließen, um auf die Politik einzuwirken?

    Vielleicht wäre das eine gute Idee. Wir alle brauchen eine Perspektive. Und dabei müssen auch die Fans – oder besser: alle Bürger und Bürgerinnen – mitgenommen werden. Das Virus wird sich jedenfalls nicht in Luft auflösen. Und gerade weil das so ist, hat der Sport mit seiner gesellschaftlichen und sozialen Aufgabe eine große Bedeutung. Die Frage, was Corona und jetzt Omikron mit unseren Kindern machen, treibt mich um. Und dabei meine ich gar nicht primär die Ansteckung. Nach zwei Jahren Pandemie dürfen wir jedenfalls nicht den Fehler machen, uns auseinanderdividieren zu lassen.

    Wie meinen Sie das?

    Meiner Meinung nach geben wir diesen Corona-Leugnern eine viel zu große Bühne. Besser wäre es, gemeinsam an Strategien und Lösungen zu arbeiten. Dabei kann man auch die Politik nicht allein lassen. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Doch ich will mir meinen Optimismus auch nach zwei Jahren nicht nehmen lassen.