Hamburg. Viele Fans begleiten die junge Mannschaft mit zunehmender Ungeduld. Clubführung verspricht dagegen Rückhalt – aber wie lange noch?

Am Montagvormittag sah Tim-Oliver Horn den Moment gekommen, in dem er seine Kritik an einigen HSV-Fans nicht mehr länger zurückhalten wollte. „Wir sollten endlich auf junge Leute setzen!“, twitterte der ehemalige Chef des HSV Supporters Club.

Anlass seines Tadels seien „manche Leute“, die Trainer Tim Walter nach sechs Unentschieden aus zehn Spielen und Tabellenplatz acht bereits als „gescheitert“ bewerten würden. Doch für eine solche Sichtweise fehlt Horn das Verständnis. „Wir müssen mal etwas aufbauen, etwas entwickeln, einem Trainer auch mal Zeit geben.“

Zunehmende Ungeduld unter HSV-Fans

Doch Zeit, und das dürfte auch Horn wissen, ist eine Komponente, die es im Fußball nur ganz selten gibt – vor allem in Hamburg. Nach einem bislang von der Punkteausbeute her unbefriedigenden Saisonverlauf werden viele Fans zunehmend ungeduldig.

Schon seit dem Beginn der noch jungen Spielzeit wird die Mannschaft von den eigenen Anhängern kritisch begleitet. Größerer Unmut machte sich erstmals beim Heimspiel vor acht Wochen gegen Darmstadt (2:2) breit, als schon nach den Anfangsminuten jeder Fehl- und Rückpass unüberhörbar mit Pfiffen quittiert wurde.

HSV-Fans: zu hohe Erwartungshaltung

Beim jüngsten Heimspiel gegen Düsseldorf (1:1) wurde nun erneut deutlich, wie sehr viele Fans mit dem eingeschlagenen Weg der Clubverantwortlichen fremdeln. Spätestens nach dem Platzverweis gegen den Fortunen Edgar Prib (23.) war die hohe Erwartungshaltung auf den Rängen spürbar.

Doch dieser wird der HSV momentan nicht gerecht. Ein Zustand, für den einige Zuschauer selbst bei kleinsten Fehlern oftmals nur ein Raunen oder Pfiffe übrig haben, welche durch den fehlenden Dauergesang der sich im Stimmungsboykott befindenden Ultras lauter wahrnehmbar sind, als es vor der Pandemie der Fall war.

HSV-Fans sollten sich mit Talenten identifizieren

Dabei hatte sich Walter gegen Düsseldorf für eine extrem junge Startelf mit Talenten aus dem eigenen Nachwuchs entschieden, die Vertrauen verdient hätten. Anssi Suhonen (20), Jonas David (21), Robin Meißner (21) und der in diesem Sommer verpflichtete Ludovit Reis (21) sind Spieler, mit denen sich die Fans nach jahrelangen Identitätsdebatten endlich wieder identifizieren könnten.

Doch stattdessen wächst der Unmut über das graue Tabellenmittelmaß, das mit jedem Spieltag mehr zementiert wird. „Wir wissen, dass ,Geduld‘ um den Verein herum ein schwieriges Wort ist“, sagt Sportdirektor Michael Mutzel, der gerade für die Talente um mehr Vertrauen wirbt. „Ich bin stolz, dass so viele junge Spieler auf dem Platz stehen.“

HSV-Fans sind unzufrieden mit Management

Die Gründe für den fehlenden Rückhalt einiger Fans sind vielfältig. Neben ausbleibenden Siegen hat ein Großteil der Anhänger noch immer nicht die Beurlaubung von Walters beliebtem Vorgänger Daniel Thioune verziehen.

Viele zweifeln daher an der Nachhaltigkeit des vom Management um Sportvorstand Jonas Boldt und Mutzel eingeschlagenen Weges. Der Vorwurf: Zu oft wurden in der Vergangenheit die eigenen Aussagen nicht eingehalten – vor allem beim erklärten Ziel Entwicklung.

Beenden HSV-Ultras ihren Boykott?

Doch weil Unmutsbekundungen, die hauptsächlich von der Ost- und Westtribüne kamen, gerade junge Spieler wie Suhonen und David eher verunsichern, als ihnen weiterzuhelfen, überdenken die auf der Nordtribüne ansässigen Ul­tras bereits, ihren Stimmungsboykott vorzeitig zu beenden – noch bevor die Forderung einer Aufhebung aller Corona-bedingten Auflagen erfüllt wird.

Denn klar ist, dass die erhoffte Bundesligarückkehr mit derart unerfahrenen Spielern in dieser Saison zwar unwahrscheinlich erscheint, dafür aber die Voraussetzungen geschaffen werden, um perspektivisch eine schlagkräftige Mannschaft aufzubauen, die wieder um den Aufstieg mitspielen kann – ohne sich bei diesem Versuch weiter zu verschulden.

HSV machte Fehler in der Kommunikation

Doch ist das wirklich jedem klar? An dieser Stelle ist es offenkundig, dass es der HSV im Sommer verpasst hat, für Klarheit und Transparenz der eigenen Strategie zu sorgen, welche Ziele mit diesem Kader überhaupt möglich sind. Dass in der Entwicklung einer jungen Mannschaft ein weiteres Überbrückungsjahr in der Zweiten Liga vonnöten sein könnte, ist in dieser Form vom Club nicht ausreichend kommuniziert worden.

Ein Umstand, der so manche Fanreaktionen im Stadion erklärt und den auch die Clubspitze mittlerweile einräumt. Einigen Verantwortlichen ist inzwischen klar, dass noch einiges an Aufarbeitung zu erledigen ist, um die Fans vollständig abzuholen.

HSV-Aufsichtsrat kündigt Analyse an

Während sich die Mannschaft den bedingungslosen Rückhalt der Fans erst erarbeiten muss, scheint das Vertrauen der Verantwortlichen noch uneingeschränkt vorhanden zu sein. Der Aufsichtsrat betont, trotz der enttäuschenden Punkteausbeute die Ruhe zu bewahren. Im Winter wird es wie gewohnt eine Analyse des Kontrollgremiums geben, in der die Entwicklung der Mannschaft bewertet werden soll. Für den Moment bewertet der Aufsichtsrat die dominante Spielweise positiv, erwartet aber zugleich weitere Höhen und Tiefen bis zum Ende der Hinrunde.

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Die sportliche Leitung um Boldt und Mutzel ist ebenfalls von Trainer Walter überzeugt – wohl wissend, dass sie für die Kaderzusammenstellung verantwortlich ist. Seit der Vorbereitung deutet sich an, dass die Vakanz im Offensivbereich unterschätzt wurde. Es fehlt vor allem ein zweiter Spieler, der nach Stürmer Robert Glatzel regelmäßig trifft.

Doch viel wichtiger als Toreschießen ist es für den HSV, den Rückhalt der Fans zurückzugewinnen. Die Basis für eine Akzeptanz des neuen Weges scheint zumindest vorhanden. Das zeigt nicht nur der Tweet von Tim-Oliver Horn.