Hamburg. Selten hat das Abendblatt so viele Leserbriefe erhalten. Doch wer schreibt sich da eigentlich den Frust von der Seele?
Martin Wucherpfennig war der Schnellste. Mal wieder. Nicht einmal ein halbes Stündchen nach dem Abpfiff in Osnabrück, wo der HSV gerade 2:3 gegen den VfL und damit auch jede theoretische Chance auf den Aufstieg verloren hatte, lag Wucherpfennigs Wort zum Sonntag beim Abendblatt bereits vor. „Aus und vorbei! Der HSV wird verdientermaßen in seine vierte Zweitligasaison gehen“, stand da gleich zu Beginn in seinem Leserbrief, den der Rahlstedter um 17.56 Uhr an die Leserbriefredaktion des Abendblatts geschickt hatte.
Wucherpfennigs Werk war nur der Anfang. In den Tagen nach dem nun feststehenden Nichtaufstiegstriple landete eine Leser-E-Mail nach der anderen im elektronischen Briefkasten. Hanno Woitek aus Eppendorf schlug mit einer gehörigen Prise Sarkasmus vor, dass der HSV die letzten zehn Trainer wieder einstellen und sie im täglichen Rotationssystem trainieren lassen sollte.
Zwischen 60 und 80 Leserbriefe am Tag
Rainer Harbrucker aus Iserbrook freute sich darüber, dass zumindest Interimscoach Horst Hrubesch Klartext spreche. Und der „treue Leser“ Peter Koletzki bilanzierte, dass dieser HSV „nicht regier- und trainierbar“ sei.
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Im Schnitt erhält das Abendblatt zu allen Themen rund um Hamburg zwischen 60 und 80 Leserbriefe am Tag. Über den erneuten Nichtaufstieg des HSV waren es nun alleine mehr als 20. Doch wer sind eigentlich die Menschen, die sich Woche für Woche ihren HSV-Frust von der Seele schreiben?
Martin Wucherpfennig ist der HSV-Vielschreiber des Abendblatts
Die beste Antwort darauf kann wahrscheinlich Martin Wucherpfennig selbst geben. Er ist der HSV-Vielschreiber des Abendblatts. Alleine in dieser Saison hat er 56 Leserbriefe geschrieben. „Immer wenn ich mich ärgere, muss ich einfach mal Dampf ablassen“, sagt der 66-Jährige. „Und über den HSV ärgere ich mich sehr viel und sehr oft.“
Fast auf die Minute 24 Stunden nach seinem letzten Leserbrief steht Wucherpfennig vor dem Volksparkstadion am Uwe-Seeler-Fuß. In einem großen Rucksack hat er seine HSV-Schätze mitgebracht. Zeitungsausschnitte von früher, Familienfotos aus dem Stadion, ein handsigniertes Autogramm von Thomas von Heesen und ein Wimpel vom Europapokaltriumph 1983 in Athen. „Da war ich im Stadion live dabei“, sagt der dreifache Familienvater stolz.
Spaziergang rund um das Volksparkstadion
Das alles: lange her. „Einerseits hänge ich am HSV, andererseits ärgere ich mich auch immer mehr über den HSV“, sagt Wucherpfennig, der seinen ersten Abendblatt-Leserbrief vor knapp 20 Jahren geschrieben hat. Frank Pagelsdorf war gerade entlassen worden, erhielt eine Abfindung von 4,1 Millionen Mark und unter Interimstrainer Holger Hieronymus verlor der HSV 0:4 gegen Werder Bremen. „Nach der Ära Pagelsdorf hat mir das alles nicht mehr gefallen. Da kam plötzlich jedes Jahr ein neuer Trainer. Mindestens.“
Aufstieg ade! HSV enttäuscht auf ganzer Ebene in Osnabrück:
Aufstieg ade! HSV enttäuscht auf ganzer Ebene in Osnabrück
Bei einem Spaziergang rund um das Volksparkstadion berichtet Wucherpfennig. Von seinem HSV von früher („Die beste Zeit war unter Präsident Klein“), seinem HSV von heute („Der Trainerwechsel kam einfach zu spät“) und seinem Bedürfnis, Leserbriefe zu schreiben: „Manchmal muss ich direkt meinen Frust loswerden. Manchmal ist es aber auch besser, wenn ich eine Nacht drüber schlafe, damit mein Brief dann auch druckbar ist …“ Im Schnitt schreibt „Opa Wu“, wie der Lehrer der Sankt-Ansgar-Schule in der Bürgerweide von seinen Schülern genannt wird, einen Brief pro Woche.
Wucherpfennig geht an den Trainingsplätzen vorbei, wo gerade die B-Jugend unter Mehdi Mahdavikia trainiert. Als der noch um die Jahrtausendwende über die rechte Seite dribbelte und flankte, war Wucherpfennigs HSV-Welt noch in Ordnung: „Früher kannte ganz Europa den HSV. Heute steht der HSV für Haben Sie Verständnis …“
Wucherpfennig war zehn Jahre lang im Supporters Club
Von diesen Sprüchen hat der Sport-, Geografie- und Religionslehrer mehrere auf Lager. Noch ein Beispiel gefällig? „Früher war man auf Augenhöhe mit den Bayern, heute ist man auf Hühneraugenhöhe mit den Bayern.“ Wucherpfennig lacht und freut sich über seinen Spruch.
Zehn Jahre lang war der Dauerschreiber sogar Mitglied im HSV-Supporters-Club, bis er 2016 ein für alle Mal austrat. „Das ist nicht mehr mein Verein. Diesen Verein wollte ich einfach nicht mehr supporten.“ Wucherpfennig schaut auf das Stadion, in dem er früher Stammgast war. In der Zweiten Liga sei er aber noch kein einziges Mal wieder im Volkspark gewesen. „Das letzte Mal war ich im Stadion, als der Filip Kostic gegen Mainz einen Elfmeter verschossen hat“, sagt Wucherpfennig. Der HSV spielte 0:0 – und war zwei Monate später erstmals in der Clubgeschichte abgestiegen.
Nun schaut sich Wucherpfennig die Spiele entweder bei seinem 30 Jahre alten Sohn auf Sky an – „oder ich schaue einfach nur noch die Zusammenfassung in der Sportschau. Die reicht mir meistens schon.“
Wichtiger als die Spiele zu gucken, ist über die Spiele zu schreiben
Wichtiger als die Spiele zu gucken, ist über die Spiele zu schreiben. Per Leserbrief. Weit über 1000 hat Wucherpfennig in seinen 25 Jahren als Abendblatt-Abonnent geschrieben – und ist damit keinesfalls der fleißigste Leserbriefschreiber. Weitere treue und regelmäßige Leserbriefschreiberinnen und -schreiber sind Helmut Jung, Ingrid Kallbach, Detlef Lange, Dietmar Johnen-Kluge, Christiane Mielck-Retzdorff oder auch Jutta Kodrzynski.
„Ich freue mich wirklich, wenn wir viel Post bekommen, und frage mich schon mal, wenn jemand lange nichts von sich hören lässt, ob irgendwas passiert ist“, sagt Susanne Bühler, die seit zehn Jahren für die Leserbriefe beim Abendblatt verantwortlich ist – und genauso lange auch eine Art „Brieffreundin“ von Martin Wucherpfennig ist.
Die richtige Mentalität ist ein wichtiger Faktor
Der Spaziergang einmal rund um das Volksparkstadion ist vorbei – doch Wucherpfennig hat noch nicht fertig. „Nächstes Jahr wird es nicht einfacher. Ich weiß nicht, mit was für einer Mannschaft und mit was für einem Trainer der HSV im nächsten Jahr noch einen Anlauf machen will“, sagt der Bald-Pensionär, der im Sommer in Rente geht – und dann endlich mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens hat.
Mit seiner Frau wolle er einen Tanzkurs machen, Harry Potter im Mehr! Theater sehen und sich den Traum von einem Simply-Red-Konzert erfüllen. Nur zum HSV-Gucken ins Volksparkstadion wird ihn so schnell keiner bekommen. „Ich komme erst wieder ins Stadion, wenn der HSV eine Mannschaft hat, die – wie es Horst Hrubesch gesagt hat – gewinnen will, die Mentalität hat …“
Voraussichtlich gegen 17.20 Uhr wird am kommenden Sonntag die dritte Zweitliga-Spielzeit des HSV zu Ende gehen. Ob er das letzte Saisonspiel des HSV gegen Eintracht Braunschweig schauen wird, weiß Wucherpfenning noch nicht. Sicher scheint nur eines: Er wird wieder einen Leserbrief schreiben.