Hamburg. Vereinsintern ist mit der Defensive bereits der Schuldige für den möglichen Misserfolg gefunden. Das sagt Huub Stevens.
Am Mittwochmorgen gab es für die HSV-Profis eine Überraschung. Nachdem die Spieler nach und nach am Stadion eingetroffen waren, erklärte ihnen Trainer Dieter Hecking, dass diesmal nicht am Trainingsgelände im Volkspark trainiert werden würde. Mit zwei Bussen ging es stattdessen nach Soltau. Auf den Hof Loh. Und dort wurde dann auch trainiert. Aber nicht Fußball. Sondern Fußballgolf. Heckings Idee dahinter: die Köpfe freibekommen, nach dem 3:3-Dämpfer gegen Kiel einfach auf andere Gedanken kommen.
Eine Idee, die auch knapp 500 Kilometer südwestlich von Hamburg auf Anklang stieß. „Als Trainer will man jetzt vor allem die Köpfe der Jungs stärken. Mal etwas anderes machen, das Selbstbewusstsein stärken“, sagt Huub Stevens, als das Abendblatt den früheren HSV-Coach vormittags am Telefon erwischt.
Genau wie der HSV will er eigentlich gerade selbst trainieren, sagt Stevens. Er sei zwar ebenfalls Hobby-Golfer. Aber heute steht sein persönlicher Triathlon auf dem Programm: sechs Kilometer laufen, ein bisschen Fahrrad fahren und anschließend noch Gymnastik. „Man muss ja fit bleiben“, sagt Stevens, der sein Trainingspensum aber gerne um ein paar Minuten verschiebt. „Es geht ja schließlich um meinen HSV“, so der Niederländer.
HSV kassierte in vergangenen drei Spielen acht Gegentore
Seinen HSV verfolgt der 66-Jährige noch immer intensiv. „Ich gucke fast alle Spiele.“ Natürlich auch das 3:3 am vergangenen Montag gegen Kiel. „Für den neutralen Zuschauer war es ein Superspiel. Als HSV-Fan war es leider nicht so schön“, sagt Stevens, der als Erfinder der Fußball-Weisheit „Die Null muss stehen“ in den vergangenen Wochen besonders mit seinem HSV litt.
In den vergangenen drei Spielen kassierten die Hamburger acht Gegentore. Mit insgesamt 38 Gegentoren hat der HSV sogar mit Abstand die meisten von allen Aufstiegsaspiranten. In der Hinrunde kassierte der HSV gerade einmal 17 Gegentore. In der bisherigen Rückrunde sind es bereits jetzt 21. „Eine gute Defensive ist wichtig im Aufstiegsrennen“, sagt Stevens. „Aber die Defensive ist nicht nur Sache der Abwehr. Das Verteidigen fängt vorne an.“
HSV verpasst ersten Zweitligasieg gegen Holstein Kiel:
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Defensive ist nicht erstligareif
Stevens hat auch direkt ein HSV-Beispiel parat. Die Partie gegen Stuttgart, die 94. Minute, der Gegentreffer zum 2:3. „Der Ball wird vorne verloren, es wird nicht eingerückt, zwei Zweikämpfe gehen verloren, und plötzlich ist der Ball drin“, sagt Stevens. „Es war eine Fehlerkette von vorne bis hinten über mehrere Stationen.“
Eine Fehlerkette, die längst auch die HSV-Verantwortlichen registriert haben. In den zahlreichen Gesprächen seit dem Corona-Neustart hat man analysiert, dass besonders die Defensive nicht erstligareif sei. Eine Conclusio, die man aber schon im vergangenen Sommer getroffen hatte. Bereits damals war man sich einig, dass man neben den Mentalitätsspielern Rick van Drongelen und Timo Letschert sowie Gideon Jung noch einen spielstarken Innenverteidiger bräuchte. Am Ende entschied man sich für Nürnbergs Ewerton, der in der Theorie mit Letschert die Innenverteidigung bilden sollte. In der Praxis stand der Brasilianer aber nur 154 Minuten auf dem Platz.
HSV hat nicht die zweikampfstärksten Spieler
Da Talent Jonas David verliehen wurde und auch Jung entweder verletzt oder im Formtief war, sind van Drongelen und Letschert trotz zahlreicher Patzer seit Wochen konkurrenzlos gesetzt. „Rick ist ein Top-Junge. In den Niederlanden würde er ohne Probleme eine richtig gute Rolle in der Ersten Liga spielen. Er hat Mentalität und viele Stärken“, lobt Landsmann Stevens, schränkt aber ein: „Er muss allerdings auch lernen, was seine Schwächen sind. Das gilt auch für Timo Letschert. Auch er ist ein guter Abwehrmann, der aber ebenfalls Defizite hat. Das ist auch gar nicht schlimm, solange er weiß, welche Defizite er hat, und sich dementsprechend verhält.“
Ein Blick in die Statistik gibt einige Hinweise auf diese Defizite. Schaut man sich die zweikampfstärksten Spieler der Zweiten Liga an, fällt auf, dass in den Top Ten kein einziger HSV-Profi dabei ist. Letschert ist mit einer Zweikampfquote von 62,03 Prozent immerhin auf Rang elf. Landsmann van Drongelen kommt mit einer unterirdischen Quote von 56,81 Prozent erst auf Rang 51.
Spielaufbau ist berechnend
Doch Abwehrarbeit ist natürlich schon längst nicht mehr nur grätschen, kratzen und beißen. Auch der Spielaufbau ist wichtig – und der ist beim HSV vor allem eines: berechenbar. So gehören Linksverteidiger Tim Leibold (2380 Ballkontakte pro Spiel) und van Drongelen (2377) zu den drei Profis mit den meisten Ballkontakten der ganzen Liga. Nimmt man den Schnitt pro Spiel, dann gehört auch Torhüter Julian Pollersbeck mit 74,5 Ballkontakten pro Spiel in die Top drei.
Klingt gut? Bedeutet aber auch, dass der Lieblingsspielzug des HSV immer der gleiche ist: Pass auf van Drongelen, quer zu Leibold, zurück auf van Drongelen und zurück zum Torhüter. So oder ähnlich sieht man es häufig, was auch erklärt, warum bei van Drongelen starke 91,62 Prozent seiner Pässe ankommen. „Zur Defensive gehört auch das offensive Aufbauspiel“, sagt Stevens. „Nur quer, zurück, quer, zurück ist zu wenig.“
Unabhängig vom großen Ziel Aufstieg will der HSV im Sommer in der Abwehr reagieren. Bei Pechvogel Ewerton ist man unsicher, ob der Brasilianer doch noch einmal zum Faktor werden könnte. „Der HSV hat tolle Abwehrjungs, die sich aber vielleicht ab und an mal hinten alleine gelassen fühlen“, orakelt Stevens.
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Stevens glaubt dennoch an den Aufstieg des HSV
Schwarzmalen will der Niederländer aber keineswegs. „Ich bin mir sicher, dass der HSV trotzdem noch aufsteigt. Und Stuttgart auch. Ich bin mir nur unsicher, in welcher Reihenfolge.“ Platz eins sei zwar praktisch an die Überraschungsmannschaft aus Bielefeld vergeben. Aber unabhängig davon, ob Stuttgart oder der HSV Dritter werden würde, glaubt Stevens an einen Sieg in der Relegation gegen den Erstligisten. „Da habe ich ein gutes Gefühl.“
Ein ziemlich gutes Gefühl bewies am Mittwoch auch Jeremy Dudziak. Der Techniker holte sich beim Fußballgolfturnier in Soltau den ersten Platz, wurde beim anschließenden gemeinsamen Mittagessen beglückwünscht. Richtig gefeiert werden soll aber erst wieder am Freitag. In Dresden. Und am besten: ohne Gegentore.