Hamburg. Nach dem 3:3 gegen Kiel und dem dritten Last-Minute-K.-o. stellt sich wieder die Frage: Ist dieser Club reif für die Couch?

Rund zwölf Stunden nach dem Drama im Volkspark war es am Dienstagmorgen wieder einmal so weit: Die Stunde der Psychologen hatte geschlagen. 3:3 hatte der HSV am Vorabend gegen Holstein Kiel gespielt. Dabei hatten die Hamburger das entscheidende Gegentor wieder einmal in der Nachspielzeit kassiert. Die Mannschaft von Trainer Dieter Hecking hatte wichtige Punkte im Aufstiegskampf in buchstäblich letzter Sekunde verloren. Wieder einmal. Und wieder einmal fragt sich am Morgen danach ganz Fußball-Deutschland: Ist dieser Club reif für die Couch?

Den ersten Versuch einer Antwort wagte Ilias Moschos. Gerade als das abgeschirmte Regenerationstraining im Volkspark begann, gab der Krefelder Sportpsychologe beim Radiosender NDR 2 seine Sicht der Dinge preis. Die Häufung der Gegentore in der Nachspielzeit sei seiner Meinung nach für den HSV ein großes Problem. „Unser Körper hat ein Gedächtnis“, sagte der Mentaltrainer, der am Dienstag nur den Anfang machte. Wenig später folgte die Psychologin Frauke Wilhelm bei den NDR-Kollegen vom Fernsehen. Auch der Mentalcoach Matthias Herzog hat bereits mehrfach in den vergangenen Wochen versucht, aus der Ferne für die „Mopo“ in die Köpfe der HSV-Spieler zu schauen. Ähnlich wie Jürgen Lohr und Olaf Kortmann, die bereits beide den HSV im Abendblatt-Podcast verarztet hatten.

Auch Dieter Hecking hat offenbar keine Lösung für die HSV-Probleme

Die Dramaqueen HSV hat Hochkonjunktur unter Deutschlands führenden Sportpsychologen – eine Lösung für die offensichtlichen Probleme ist allerdings nicht in Sicht. Auch nicht für Dieter Hecking. „Darauf eine Antwort zu finden, das wäre wahrscheinlich etwas für Psychologen“, sagte der HSV-Trainer in der Nacht zum Dienstag, ehe er dann doch noch mal als Hobby-Psychologe tätig wurde. Kurz vor der Geisterstunde hielt Hecking nach dem 3:3 gegen Kiel eine kurze Ansprache in der Kabine, am Morgen danach folgten eine zweite Rede und die Videoanalyse. „Wir haben von hinten heraus keinen Fußball mehr gespielt“, analysierte der Fußballlehrer, der seine ganze Fassungslosigkeit am späten Montagabend in drei „leider“ ausdrückte: „Leider. Leider, leider erwischt es uns schon wieder in der Nachspielzeit.“

Nicht zu fassen: Sonny Kittel ist nach dem 3:3 tief enttäuscht.
Nicht zu fassen: Sonny Kittel ist nach dem 3:3 tief enttäuscht. © Witters

Ein „leider“ für den ärgerlichen Gegentreffer in der 94. Minute bei Greuther Fürth, der zum 2:2-Endstand führte. Ein „leider“ für den Last-Minute-Knock-out beim VfB Stuttgart, als Heckings Mannschaft erneut in der Nachspielzeit ein Tor kassierte – diesmal zum 2:3. Und das dritte „leider“ für Montagabend gegen Holstein Kiel. Wieder die 94. Minute. Wieder der letzte Angriff. Und wieder das böse Erwachen danach.

HSV-Präsident Marcell Jansen ist dennoch optimistisch

Gut geschlafen hatte auch HSV-Präsident Marcell Jansen nicht. Doch nach einer sehr unruhigen Nacht präsentierte sich Jansen am Dienstagmorgen schon wieder analytisch-optimistisch. „Ich sehe einen großen Unterschied zur vergangenen Saison. Da hatten wir in vielen Phasen keine Antworten und haben häufig verdient verloren. Jetzt reden wir über die ärgerlichen Gegentore in der Nachspielzeit. Das ist inhaltlich ein riesiger Unterschied, deswegen bin ich weiterhin guter Dinge“, sagte Jansen am frühen Dienstag zum Abendblatt.

HSV verpasst ersten Zweitligasieg gegen Holstein Kiel:

HSV verpasst ersten Zweitligasieg gegen Holstein Kiel

Schock in der vierten Minute der Nachspielzeit: Kiels Finn Porath (l.) und Stefan Thesker (M.) bejubeln den 3:3-Ausgleichstreffer gegen den HSV.
Schock in der vierten Minute der Nachspielzeit: Kiels Finn Porath (l.) und Stefan Thesker (M.) bejubeln den 3:3-Ausgleichstreffer gegen den HSV. © Witters/Pool | Valeria Witters
HSV-Doppeltorschütze Joel Pohjanpalo (l.) jubelt über seinen zweiten Führungstreffer gegen Kiel.
HSV-Doppeltorschütze Joel Pohjanpalo (l.) jubelt über seinen zweiten Führungstreffer gegen Kiel. © Witters/Pool | Valeria Witters
Kurz zuvor hatte Emmanuel Iyoha (l.) den 2:2-Ausgleich für Holstein Kiel erzielt.
Kurz zuvor hatte Emmanuel Iyoha (l.) den 2:2-Ausgleich für Holstein Kiel erzielt. © dpa | Christian Charisius
Spiel gedreht: Joel Pohjanpalo (l.) schiebt nach Vorarbeit von Tim Leibold (v.) zum 2:1 für den HSV gegen Holstein Kiel ein. Für den Finnen war es bereits der sechste Saisontreffer.
Spiel gedreht: Joel Pohjanpalo (l.) schiebt nach Vorarbeit von Tim Leibold (v.) zum 2:1 für den HSV gegen Holstein Kiel ein. Für den Finnen war es bereits der sechste Saisontreffer. © dpa | Christian Charisius
… und für Tim Leibold (r.) schon die 18. Torvorlage für den HSV..
… und für Tim Leibold (r.) schon die 18. Torvorlage für den HSV.. © dpa | Christian Charisius
Zuvor hatte HSV-Kapitän Aaron Hunt per Foulelfmeter für den Ausgleich gesorgt …
Zuvor hatte HSV-Kapitän Aaron Hunt per Foulelfmeter für den Ausgleich gesorgt … © Christian Charisius/Pool via Getty Images | Pool
… und gleich gezeigt, dass er damit nicht zufrieden ist.
… und gleich gezeigt, dass er damit nicht zufrieden ist. © dpa | Christian Charisius
Sonny Kittel will zuvor eine Berührung im Gesicht verspürt haben.
Sonny Kittel will zuvor eine Berührung im Gesicht verspürt haben. © Christian Charisius/Pool via Getty Images
Gejubelt hat der HSV bereits wenige Minuten zuvor, doch Rick van Drongelens (o.) Kopfballtreffer wurde per Videobeweis aberkannt, weil Bakery Jatta (l.) im Abseits stand.
Gejubelt hat der HSV bereits wenige Minuten zuvor, doch Rick van Drongelens (o.) Kopfballtreffer wurde per Videobeweis aberkannt, weil Bakery Jatta (l.) im Abseits stand. © xim.gs | Valeria Witters
Kiels Alexander Mühling (2. v. l.) hatte mit seinem frühen Gegentor den HSV kalt erwischt.
Kiels Alexander Mühling (2. v. l.) hatte mit seinem frühen Gegentor den HSV kalt erwischt. © Christian Charisius/Pool via Getty Images | Pool
HSV-Torwart Julian Pollersbeck streckte sich vergeblich.
HSV-Torwart Julian Pollersbeck streckte sich vergeblich. © dpa | Christian Charisius
HSV-Verteidiger Timo Letschert (r.) geht im Kieler Strafraum zu Boden, doch Jae-Sung Lee (M.) spielt nur den Ball, weshalb Schiedsrichter Bastian Dankert (l.) seine Elfmeterentscheidung später zurücknehmen muss.
HSV-Verteidiger Timo Letschert (r.) geht im Kieler Strafraum zu Boden, doch Jae-Sung Lee (M.) spielt nur den Ball, weshalb Schiedsrichter Bastian Dankert (l.) seine Elfmeterentscheidung später zurücknehmen muss. © Witters/Pool | Valeria Witters
Später K. o.: HSV-Kapitän Aaron Hunt (u.) und Kiels Salih Özcan (r.) haben etwas zu klären.
Später K. o.: HSV-Kapitän Aaron Hunt (u.) und Kiels Salih Özcan (r.) haben etwas zu klären. © Witters/Pool/EP | Valeria Witters
Schiedsrichter Bastian Dankert (l.) diskutiert mit HSV-Verteidiger Timo Letschert.
Schiedsrichter Bastian Dankert (l.) diskutiert mit HSV-Verteidiger Timo Letschert. © Witters/Pool | Valeria Witters
Bakery Jatta (M., im Dreikampf mit Kiels Johannes van den Bergh, l., und Stefan Thesker) hatte Louis Schaub aus der Startelf verdrängt.
Bakery Jatta (M., im Dreikampf mit Kiels Johannes van den Bergh, l., und Stefan Thesker) hatte Louis Schaub aus der Startelf verdrängt. © dpa | Christian Charisius
HSV-Angreifer Bakery Jatta (l.) im Zweikampf mit Kiels Stefan Thesker.
HSV-Angreifer Bakery Jatta (l.) im Zweikampf mit Kiels Stefan Thesker. © Witters/Pool | Valeria Witters
Kiels Linksaußen Emmanuel Iyoha (l.) auf Tuchfühlung mit HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (M.).
Kiels Linksaußen Emmanuel Iyoha (l.) auf Tuchfühlung mit HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (M.). © Witters/Pool | Valeria Witters
HSV-Vorlagenkönig Tim Leibold (r.) schlug auch gegen Holstein Kiel (mit Emmanuel Iyoha, l. und Alexander Mühling) zu.
HSV-Vorlagenkönig Tim Leibold (r.) schlug auch gegen Holstein Kiel (mit Emmanuel Iyoha, l. und Alexander Mühling) zu. © Witters/Pool | Valeria Witters
HSV-Torwart Julian Pollersbeck durfte auch gegen Holstein Kiel von Beginn an ran.
HSV-Torwart Julian Pollersbeck durfte auch gegen Holstein Kiel von Beginn an ran. © Valeria Witters/POOL/EP | ValeriaWitters
Vor dem Anpfiff knieten die Spieler beider Mannschaften als Zeichen gegen Rassismus am Mittelkreis.
Vor dem Anpfiff knieten die Spieler beider Mannschaften als Zeichen gegen Rassismus am Mittelkreis. © dpa | Christian Charisius
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Jansen hat keine operative Rolle beim HSV – allerdings gelten sein Wort und seine Meinung als wichtiger Indikator über das Befinden in der Chefetage im Volkspark. Jansen war es, der frühzeitig in der vergangenen Saison den Daumen bei Christian Titz gesenkt hatte. Genauso wie bei Nachfolger Hannes Wolf. Auf Dieter Hecking aber lässt der Aufsichtsratschef und Präsident in Personalunion trotz gegenteiliger Berichte nichts kommen. „Die Mannschaft lebt. Sie schießt viele Tore, kann Rückschläge wegstecken, jeden Gegner schlagen. Dieses Gefühl hatte ich im letzten Jahr ab März häufiger nicht mehr“, sagt Jansen. Und weiter: „Ich habe einiges miterlebt beim HSV, aber im Moment erlebe ich einen Aufstiegskampf, bei dem Leben in der Bude ist. Das ist für mich ein anderer HSV als im vergangenen Jahr.“ ​

Bei erneuten Punktverlusten droht ein Verlust von Relegationsplatz drei

Sieben Jahre hat Jansen beim HSV gespielt, seit anderthalb Jahren ist er Präsident. Er war bei den Werder-Wochen 2009 auf dem Platz, in den Relegationen 2014 und 2015, er erlebte den Abstieg 2018 als Aufsichtsrat von der Tribüne aus. Kaum einer kennt die zahlreichen Dramen der jüngeren Vergangenheit besser. „Die Dramatik wird uns begleiten mit Höhen und Tiefen, das war eh klar“, sagt Jansen, der natürlich auch am Montagabend im verwaisten Volksparkstadion auf der Tribüne dabei war. „Es bleiben vier Endspiele. Und wir hoffen alle, dass unser HSV den Schritt gehen wird.“

Der HSV gegen Kiel in der Einzelkritik

Den ersten Schritt, den Jansen leidenschaftlich einfordert, muss der HSV bereits am Freitagabend bei Schlusslicht Dynamo Dresden gehen. Bei erneuten Punktverlusten droht ein Verlust von Relegationsplatz drei. „Es geht Schlag auf Schlag“, sagt Jansen. Drama bleibt also garantiert. Zum Beispiel am 33. Spieltag im Duell beim direkten Konkurrenten Heidenheim. Oder gegebenenfalls bei den Relegationsspielen Anfang Juli. Man bleibe positiv, sagte Sportvorstand Jonas Boldt etwas kurz angebunden am Dienstag. Und man würde hart arbeiten.

Unzulänglichkeiten in der Nachspielzeit

Diese harte Arbeit darf man sich dann allerdings nicht durch Unzulänglichkeiten in der Nachspielzeit kaputtmachen lassen. Gegen Kiel kassierte der HSV vier Ecken und einen Freistoß gegen sich, als die reguläre Spielzeit bereits längst abgelaufen war. „Die Spieler spüren natürlich auch, dass die Uhr jetzt runterläuft“, erklärte Hecking. Zum siebten Mal in dieser Saison verspielten die Hamburger nach Führungen noch die drei Punkte (sechs Remis, eine Niederlage). Zum Vergleich: Verfolger Heidenheim passierte das noch gar nicht, Stuttgart nur dreimal und Bielefeld viermal.

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Also doch ein Fall für den Psychologen? Vor einem Jahr lehnte Hannes Wolf noch vor dem entscheidenden Spiel gegen Paderborn die Hilfe des Mentaltrainers Jörg Löhr, der jetzt bei Werder Bremen arbeitet, ab. In dieser Saison hat man sich beim HSV intern mit dem Gedanken beschäftigt, einen Mentalcoach dazuzunehmen. Nach Rücksprache mit den Experten waren sich aber alle einig, dass so eine Maßnahme nur als langfristig angelegtes Projekt Sinn ergibt.

Die Verantwortlichen sind überzeugt, dass es im Team im Vergleich zur vergangenen Saison charakterlich stimmt. Die nächste Chance, das zu beweisen, gibt es am Freitag in Dresden. 18.30 Uhr. Drama ist programmiert.