Hamburg. Jens-Uwe Boldt erklärt seinen Sohn, der beim HSV schon die dritte große Krise bewältigen muss. Woher rührt des Managers Ruhe?

Eine der schönsten Spielereien im Fußball ist das „Was wäre wenn?“-Spiel. Was wäre passiert, wenn diese verdammte Papierkugel nicht zur Ecke geführt hätte? Der Trainer schon im Winter gefeuert worden wäre? Oder der Stürmer den Ball im entscheidenden Spiel nicht an den Pfosten, sondern ins Tor geschossen hätte? Auf all diese kosmischen Fragen des Fußballs gibt es dummerweise genauso wenig eine allgemeingültige Antwort wie auf die Frage, was eigentlich passiert wäre, wenn Jonas Boldt schon vor fünf Jahren „Ja“ zum Krisen-HSV gesagt hätte.

Der baumlange Sportvorstand sitzt in einem Nebenraum der Geschäftsstelle, hat die Beine ausgestreckt und muss grinsen, als ihm das Google-Ergebnis der Suchwörter „Jonas Boldt“ und „Krise“ vorgelesen wird: „Bayer-Alarm: Manager Jonas Boldt ließ Krisen-HSV abblitzen“, steht in großen Buchstaben über dem Artikel im „Kölner Express“ vom 16. November 2016. Dort wird angedeutet, dass der damalige Bayer-Sportdirektor gleich zweimal dem damaligen HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer abgesagt hätte. „Das stimmt“, bestätigt Boldt heute. „Beide Male hat es zeitlich nicht gepasst.“

Statt Boldt holte Beiersdorfer 2014 Peter Knäbel, der in Hamburg besonders durch die Rucksack-Krise in Erinnerung geblieben ist. Und 2016 kam Jens Todt, der in der Krisensaison 2017/18 wieder gehen musste, als nach drei Trainern der Abstieg besiegelt wurde. Nicht zu vergessen, dass der gerade erst entlassene Bernd Hoffmann Boldt ja auch schon 2018 holen wollte, sich aber den dritten Boldt-HSV-Korb abholte und deswegen Ralf Becker verpflichtete.

„Besondere Situation für die Menschheit“

Wie sagt man so schön? Vier gewinnt! Als auch Becker am Krisen-HSV scheiterte, kam Boldt im vierten Anlauf – und musste sich seitdem vor allem als eines auszeichnen: als Krisenmanager. „Bis jetzt bin ich eigentlich durch alle Krisen ganz gut gekommen“, sagt Boldt im 90-minütigen Krisengespräch mit dem Abendblatt. „Wobei es ja Definitionssache ist, was man alles als Krise bezeichnet. Grundsätzlich mag ich das Wort Krise nicht besonders. Ich spreche lieber von Herausforderungen.“

Dann eben Boldt, der Herausforderungsmanager. Knapp ein Jahr ist der 38-Jährige in Hamburg bereits im Amt – und musste seitdem gleich drei Groß­krisen managen. Die Jatta-Affäre, den Vorstandsstreit und nun die wohl größte Herausforderung: die Corona-Krise. „Das ist nicht nur eine Krise für den Fußball“, sagt Boldt, und nimmt einen Schluck Wasser. „Das ist eine besondere Situation für die Menschheit.“

Jens-Uwe Boldt muss schmunzeln, als er zwei Tage später hört, was dem Sohnemann zum Begriff „Krise“ so einfällt. „Mich wundert überhaupt nicht, dass Jonas sich gegen das Wort ,Krise‘ sträubt. Er hat immer allergisch auf das Wort reagiert“, sagt Boldt senior.

Boldt spricht mit gesamtem Staff jeden Abend per Video

Jonas Boldts Vater hat gerade 13,5 Kilometer in 40 Minuten auf dem Ergometer abgerissen und sitzt nun entspannt in seinem Wohnzimmer in Düsseldorf. „Jonas’ große Qualität ist, dass er schon immer sehr ruhig, besonnen und überlegt auf die kleinen und großen Krisen des Lebens reagiert hat“, sagt der 75-Jährige, dem sofort auch ein Beispiel aus Boldts Kindheit einfällt.

„Bei uns war es Tradition, dass wir am Sonnabend immer ein großes Familienfrühstück hatten. Bei vier Kindern, die alle ein Instrument spielten und die alle ihre Hobbys hatten, ging es da ziemlich rummelig zur Sache. Es war laut – und jeder wollte am lautesten sein.“ Nur einer nicht. „Nur Jonas war meistens sehr ruhig – und versuchte seine Wünsche mit Argumenten und nicht mit Lautstärke zu unterfüttern.“

Teilnehmer der täglichen Videokonferenzen, die beim HSV in der Corona-Zeit jeden Abend um 20 Uhr mit dem gesamten Staff abgehalten werden, dürften sich bestätigt fühlen. Auch hier geht es via Microsoft-Teams ähnlich rummelig zu wie einst bei den Boldts am Frühstückstisch. Und immer dann, wenn die Diskussion in eine Sackgasse läuft, so beschreibt es ein Teilnehmer, meldet sich der ruhige Boldt aus dem Off und mahnt Gelassenheit an. „Ich lasse mich selten von Hektik anstecken“, sagt Boldt, und spielt mit seiner blauen Baseballkappe. „Natürlich kann es in mir mal brodeln, aber meistens bin ich schon sehr kon­trolliert. Das habe ich eher von meinem Vater als von meiner Mutter.“

Auch den Fall Jatta hat Boldt nicht als Krise empfunden

Jens-Uwe Boldt stimmt in Düsseldorf sofort zu. „In dieser Hinsicht kommt Jonas tatsächlich eher nach mir als nach seiner südamerikanischen Mutter.“ Karin Ines Sofia Margaretha Boldt ist als jüngste von fünf Kindern in Chile geboren, aber in Hamburg aufgewachsen. Dort hat sie Boldts Vater auch kennengelernt und später geheiratet. Standesamtlich in Norderstedt, kirchlich in der Nikolaikirche.

„Wir hatten immer eine große Verbindung zu Hamburg“, sagt Jens-Uwe Boldt, der sich entsprechend gefreut hat, dass sein Sohn bei der vierten Anfrage vom HSV schließlich doch zusagte. „Als ich beim HSV unterschrieben habe, war mir bewusst, dass wir auch die eine oder andere schwere Aufgabe vor uns haben würden“, sagt Boldt junior im Besprechungszimmer im Volkspark. „Mir war aber auch klar, dass sich jede Menge Chancen ergeben, wenn wir erst einmal die Herausforderungen gemeistert haben.“

Tatsächlich dauerte es nach seinem Einstieg beim HSV nicht lange, ehe die erste große Herausforderung auf ihn wartete: die Affäre Jatta. Wochenlang beherrschte die Debatte um den angeb­lichen, aber nie bewiesenen Identitätsschwindel des Gambiers Fußball-Deutschland. „Auch den Fall Jatta habe ich nicht als Krise empfunden“, sagt Boldt, der Jatta von Anfang an wie eine Löwenmutter ihr Baby beschützte. „Die Faktenlage sprach für ihn, und auch aus menschlicher Sicht gab es für uns keine Alternative.“

Ungerechtigkeiten ärgern ihn

Fragt man Mitarbeiter beim HSV, die damals in den Gesprächen hinter verschlossenen Türen dabei gewesen waren, zeigen sich diese noch heute beeindruckt. Der Sportvorstand des HSV, der ja gerade erst wenige Wochen im Amt war, habe auch dann nie den Kopf verloren, als es persönlich wurde. Die „Bild“ titelte: „Jatta drohen fünf Jahre Haft“, in Karlsruhe wurde der Gambier vom ganzen Stadion ausgepfiffen und Konkurrent Nürnberg wollte Funktionäre aus Afrika als Zeugen einfliegen lassen. „Jonas steht zu seinen Überzeugungen“, sagt sein Vater. „Und er war nun mal davon überzeugt, dass Jatta Unrecht widerfuhr.“

Schon als Kind habe sich Jonas über kaum etwas so sehr geärgert wie über Ungerechtigkeiten. Deswegen war Papa Boldt auch nicht überrascht, dass sich sein Sohn beim Rückspiel gegen Nürnberg einem gemeinsamen Interview mit Nürnbergs Manager Robert Palikuca verweigerte. „Die Nürnberger haben sich erst später öffentlich entschuldigt“, sagt Jens-Uwe Boldt. „Und erst dann war für Jonas der Fall erledigt.“

Vorstandsstreit mit Bernd Hoffmann

Im Vorstandsstreit mit Bernd Hoffmann, den Boldt senior kurioserweise seit vielen Jahrzehnten aus Leverkusen kennt, hätte am Ende wahrscheinlich nicht einmal eine Entschuldigung die Wogen glätten können. „Es sind einfach viele Dinge passiert, die ich überhaupt nicht beeinflussen konnte“, sagt Jonas Boldt im ersten Stock des Volksparkstadions – und erinnert sich, wie er fast an gleicher Stelle auf das Ergebnis der entscheidenden Aufsichtsratssitzung gewartet hatte. „Ein Freund sagte mir auf dem Weg in den Volkspark: Viel Glück. In dem Moment dachte ich schon kurz darüber nach, dass es natürlich auch mich am Ende treffen könnte“, sagt Boldt. „Da kam mir kurz der Gedanke, wie schade es wäre, wenn es nun vorbei wäre.“

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    Der „Was wäre wenn“-Fall trat nicht ein. Als „schade“ könnte man aber auch seinen Abgang nach elf Jahren bei seinem einstigen Herzensclub Bayer Leverkusen bezeichnen. Als 18-jähriger Fan war er im Sportpark Unterhaching live dabei, als Bayer am letzten Spieltag der Saison die sicher geglaubte Meisterschaft verspielte. Ballack, der linke Fuß, das Eigentor. Als Boldt dann ein paar Jahre später zunächst als Praktikant, dann Scout und schließlich Sportdirektor für Bayer arbeitete, war das für ihn tatsächlich eine Herzensangelegenheit. Umso mehr soll der gebürtige Nürnberger enttäuscht gewesen sein, dass es bei seinem Abschied im Dezember 2018 durchaus geknirscht hat. „In Leverkusen war ich im Bestreben, die Dinge voranzutreiben, manchmal mit dem Presslufthammer unterwegs“, räumt er heute ein.

    Mediale Bombe

    Als Krise, gar als Lebenskrise, würde Boldt sein Ende in Leverkusen dennoch nicht bezeichnen. Ganz ohne persönliche Krise kommt aber auch der Herausforderungsmanager nicht davon. Gerade als er sich mit Leverkusen auf eine Vertragsauflösung zum Sommer geeinigt hatte und seinen Kopf beim Skifahren im fernen Kanada mit seinem Bruder frei bekommen wollte, platzte neun Zeitzonen entfernt die mediale Bombe: „Boldt und seine Berater-Buddys“, schrieb der „Spiegel“ über eine Geschichte, in der suggeriert wurde, dass der Jungmanager mit einer Beraterfirma gemeinsame Geschäfte gemacht habe. „Die Geschichte ist schon sehr an den Haaren herbeigezogen und schlecht recherchiert. Das hat mich schon extrem gestört“, sagt Boldt nun anderthalb Jahre später.

    Der damalige Vorwurf: Laut der Enthüllungsplattform „Football Leaks“ soll ein Scheinangebot Boldts 2015 für den Torhüter Lukasz Fabianski dazu geführt haben, dass der seinen Vertrag bei Swansea lukrativ verlängerte – und dessen Agenten eine siebenstellige Provision kassierten. „Den einzigen Vorwurf, den ich mir gefallen lassen muss, ist, dass ich die E-Mail nicht selbst formuliert hatte. Und das passierte auch nur deshalb, weil ich zu 100 Prozent mit dem Inhalt übereinstimmte“, sagt Boldt heute.

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    Was später kaum noch einer berichtete: Drei Jahre nach der „E-Mail-Affäre“ wechselte Fabianski tatsächlich: für acht Millionen Euro zu West Ham United. Swansea profitierte im Nachhinein also extrem davon, dass der Torhüter 2015 seinen Vertrag verlängert hatte. Trotzdem wird Boldt sehr ernst, wenn er noch einmal zu den Vorkommnissen von damals befragt wird. „Auch ohne schlechtes Gewissen ist es nicht schön, im ,Spiegel‘ so eine Geschichte über sich selbst zu lesen. Das hat mich für den Moment schon getroffen“, sagt er.

    „Aber das Feedback, das ich später von Bekannten und auch Kollegen aus der Branche bekam, half mir sehr. Der Tenor war: ,Jonas, das, was dir vorgeworfen wird, bist du nicht!‘ Dass die ganze Geschichte relativ schnell im Sande verlaufen ist, zeigt, dass sie keine Substanz hat“, sagt Boldt – und lacht dann doch: „Außer vom Abendblatt werde ich darauf auch überhaupt nicht mehr angesprochen.“

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    All diese Erfahrungen hätten ihm aber geholfen, um mit den wirklichen Krisen, oder besser: Herausforderungen, klarzukommen. An diesem Mittwoch entscheidet die Bundesregierung nun über die Fortsetzung der Saison – und gewissermaßen auch über die Zukunft des deutschen Fußballs. Und Boldt? Bleibt gelassen. Natürlich. „Wir müssen jetzt nicht hektisch werden“, sagt er. „Jede Krise, jede noch so große Herausforderung hat auch ihre Chance.“

    Doch was wäre, wenn die Bundesregierung nach den positiven Fällen in Köln plötzlich umschwenkt? Eine Frage im Konjunktiv, auf die man keine klare Antwort geben kann. Anders als auf die klar formulierte Frage ganz zum Schluss des Gesprächs: Wird der Fußball die Krise meistern? „Ja“, antwortet Boldt. „Der deutsche Fußball könnte im Vergleich zu vielen anderen Ligen sogar gestärkt aus dieser Phase herauskommen.“

    Auch in Düsseldorf macht sich Papa Boldt keine zu großen Sorgen. Mit 75 Jahren gehöre er zwar zur Risikogruppe, aber er befolge alle Regeln und sei vorsichtig. Und was den Fußball betrifft, hat er mal gar keine Sorgen: „Der Jonas macht das schon“, sagt er.