Hamburg. Großevents suchen neue Termine, Vereine fürchten Saisonabbrüche und Verluste: ein Lagebericht zu den Coronafolgen im Sport.
Die Erkenntnis, dass Hamburg der traurigste Sportsommer seit vielen Jahren bevorsteht, sickerte am Tag nach den Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Landesvertretungen nachhaltig ins Bewusstsein aller, denen der Sport aus beruflicher oder ideeller Sicht am Herzen liegt. Wie hart die Enttäuschung darüber, dass bis zum 3. Mai keinerlei Lockerungen der Coronaregeln für Vereine oder kommerzielle Sportanbieter möglich sowie Großveranstaltungen in ganz Deutschland bis zum 31. August nicht erlaubt sind, auch Andy Grote getroffen hat, ließ sich aus der Stellungnahme herauslesen, die Hamburgs Sportsenator am Donnerstag um 16.41 Uhr versendete.
„Aus Sicht des Sports ist es bedauerlich und enttäuschend, dass im gestrigen Beschluss keinerlei Lockerungen vorgesehen sind. Hamburg hätte sich da etwas mehr zugetraut“, sagte der 51 Jahre alte SPD-Politiker. Tatsächlich war in den rund vierstündigen Verhandlungen der Sport überhaupt kein Thema gewesen. Nicht einmal die viel diskutierten Geisterspiele in den Fußball-Bundesligen kamen zur Sprache. Dabei brauche der Sport, so Grote, dringend ein Signal und eine Perspektive für den Wiedereinstieg. „Wir müssen die nächsten zwei Wochen nutzen, um konkrete Vorschläge zu erarbeiten, wie ein erster Schritt der Wiederaufnahme des Sportbetriebs ab dem 4. Mai aussehen könnte. Hamburg wird sich auf Ebene der Sportministerkonferenz für ein entsprechendes klares Votum einsetzen.“
Klar ist bislang nicht einmal, ob es eine bundesweit einheitliche Definition des Begriffs „Großveranstaltung“ geben wird. „Für Hamburg werden wir das relativ strikt fassen. Wenn mehr als 1000 Menschen beteiligt sind, muss man von einer Großveranstaltung sprechen“, sagte Sportstaatsrat Christoph Holstein. „Das bedeutet, dass alle Topsportevents im Sommer nur stattfinden könnten, wenn die Verantwortlichen es wirtschaftlich für vertretbar hielten, die Events ohne Zuschauer zu veranstalten.“ Welche Auswirkungen die Entscheidungen, über deren Lockerungen die Politik frühestens am 30. April diskutieren will, auf die einzelnen Bereiche des Hamburger Sports haben, versucht das Abendblatt in folgender Übersicht zu erläutern.
HSV fehlen sieben Millionen Euro Zuschauereinnahmen
Frank Wettstein verfolgte die Vorträge der Bundesregierung am Mittwochabend gelassen. Der Finanzvorstand des HSV hatte mit den neuen Bestimmungen gerechnet. „Wir haben nun die Gewissheit, dass wir in dieser Saison keine Heimspiele mehr vor Zuschauern austragen werden. Darauf waren wir eingestellt“, sagte Wettstein am Donnerstag dem Abendblatt. Sollte die Deutsche Fußball Liga die laufende Saison noch vor Ende August zu Ende bringen, müssten die Hamburger ihre verbleidenden fünf Heimspiele im Volksparkstadion vor leeren Rängen austragen. Für Wettstein ist das aber eine positive Nachricht. „Für uns bedeuten die neuen Entscheidungen vor allem, dass wir weiterhin auf die Austragung der Geisterspiele hoffen können.“
Auf den hohen Verlust durch die fehlenden Zuschauereinnahmen war der HSV vorbereitet. Sieben Millionen Euro beträgt der Schaden insgesamt. Vier Millionen Euro davon entfällt auf die Rückabwicklung der bislang verkauften Tickets. Dazu kommen durch die neuen Maßnahmen noch rund 500.000 Euro Verlust durch den Ausfall von Konzerten. Im Juni und im Juli hätten die Rockbands Guns n' Roses und Rammstein im Rahmen ihrer Welttournee in der HSV-Arena auftreten sollen. Der Club rechnet aber damit, dass die Konzerte im kommenden Jahr nachgeholt werden und die Einnahmen dann fließen.
Wie der HSV den Millionenverlust auffangen will
Die Umsatzverluste fallen noch in das laufende Geschäftsjahr. Der HSV hatte ohnehin schon mit einem neuen Millionenminus kalkuliert. Ein neues Rekordminus – bislang lag das in der Saison 2014/15 (16,9 Millionen) – ist aber nicht zu erwarten. Wie hoch das Minus letztlich ausfällt, liegt letztlich vor allem daran, ob die Saison dann auch tatsächlich wie erwartet mit Geisterspielen beendet werden kann.
Neben der Maßnahme der Kurzarbeit hat der HSV bereits Modelle vorbereitet, wie er wirtschaftlich auf die verschiedenen Szenarien reagieren wird. Klar ist man sich intern, dass es zu einem Gehaltsverzicht in der Mannschaft, im Trainerteam und im Vorstand kommen wird. Unklar ist noch, wie hoch dieser ausfallen wird. Der HSV will noch abwarten, wie hoch der Bedarf letztlich sein wird. Klarheit könnte es in zwei Wochen geben, wenn die DFL die Pläne für die Geisterspiele ausgearbeitet hat.
HSV will auf Corona-Soforthilfe verzichten
Fest steht für den HSV, dass er die Stadt Hamburg nicht um finanzielle Unterstützung bitten wird. Der Senat hat mit der Corona-Soforthilfe und dem zinsgünstigen Sportförderkredit zwei Optionen zur Verfügung gestellt. Diese richtet sich aber vor allem an kleinere Vereine, die Existenzprobleme bekommen könnten.
„Die Förderung der Stadt ist aus Sicht der Proficlubs eine eher kleinere Angelegenheit“, sagte Holstein. Auch der Sportstaatsrat hofft darauf, dass der HSV und der FC St. Pauli mithilfe der Geisterspiele zumindest mit der Auszahlung der wichtigen TV-Gelder rechnen kann. Für Holstein hätte die Aufnahme des Spielbetriebs zudem noch einen weiteren Effekt. „Es wäre das Signal, dass wir uns in kleinen Schritten wieder zum Normalzustand bewegen und den Zuschauern wieder etwas anbieten können.“
Die Fans bleiben trotzdem der große Verlierer. Ihnen bleibt nicht nur das gemeinsame Stadionerlebnis verwehrt, sondern möglicherweise auch die gemeinsame Feier. Sollte der HSV in den verbleibenden Spielen vor Ende August noch den Aufstieg in die Bundesliga schaffen, fiele eine mögliche Party auf dem Rathausmarkt flach. „Ob man eine Aufstiegsfeier ein halbes Jahr später oder beim ersten Bundesligaspiel nachholen kann, das weiß ich nicht“, sagt Holstein. „Wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass in diesem Jahr vieles ein bisschen anders ist.“
FC St. Pauli entgehen Mieteinnahmen in sechsstelliger Höhe
Auch der FC St. Pauli beklagt Einbußen abseits des sportlichen Betriebs. Bernd von Geldern, Geschäftsleiter Vertrieb, sagte: „Gerade in der Sommerpause ist bei der Vermietung von Räumlichkeiten im Stadion Hochkonjunktur. Das liegt daran, dass wir in dieser Zeit Planungssicherheit haben. Uns entgeht nun ein mittlerer sechsstelliger Betrag.“
Insbesondere in den beiden großen VIP-Bereichen der Haupt- und Südtribüne finden an Tagen, an denen es keine Heimspiele gibt, diverse externe Veranstaltungen statt, wie etwa Aktionärsversammlungen. Abgesagt worden war bereits die alljährlich in der Sommerpause stattfindende Millerntor Gallery, bei der Künstler die Wände in den Umläufen des Stadions mit ihren Kunstwerken neu gestalten, sie dann einem großen Publikum präsentieren.
Beide Triathlons an einem Wochenende?
Oliver Schiek musste am Donnerstag eine 180-Grad-Kehrtwende hinlegen. „Noch am Mittwoch hatte ich dem Radsport-Weltverband gemeldet, dass wir wie geplant veranstalten werden. Heute musste ich dann um eine Terminverlegung bitten“, sagte der Geschäftsführer der Ironman Germany GmbH, die als Veranstalter der Cyclassics eins von zwei deutschen World-Tour-Rennen verantwortet. Das Event, zu dem rund 15.000 Jedermann-Starter und mehrere Hunderttausend Besucher am 16. August zusammenkommen sollten, soll nun im Herbst stattfinden.
Im engen Terminkalender, der nach der Verschiebung der Tour de France auf die ersten drei Septemberwochen hart umkämpft ist, hofft Schiek auf einen Ersatztermin im Oktober. Das Anmeldeverfahren ist gestoppt, „aber wir geben Vollgas, um einen Ausweichtermin zu bekommen.“ Sollte dies misslingen, „würde uns das nicht in den Grundfesten erschüttern. Aber eine Katastrophe ist es trotzdem“, sagte Schiek.
Da die Ironman Germany GmbH, die kürzlich von einem chinesischen an einen US-Investor verkauft worden war, auch die beiden Hamburger Triathlon-Events veranstaltet, haben Schiek und sein Team an mehreren Fronten zu kämpfen. Der für den 21. Juni geplante Ironman war in der vorvergangenen Woche ohne Datum verlegt worden. Nun braucht auch das am 11./12. Juli vorgesehene WM-Serienrennen einen neuen Termin. „Wir prüfen verschiedene Optionen, würden aber eine Variante präferieren, in der wir beide Events an einem Wochenende bündeln“, sagte Schiek. Ein Datum Anfang September wäre dafür vonnöten, ansonsten wäre die für das Schwimmen vorgesehene Alster zu kalt.
Rothenbaum-Turnier und Galoppderby vor leeren Rängen?
Staatsrat Holstein fürchtet allerdings, dass die Terminballung im September und Oktober zu Überschneidungen führt. Schließlich sucht auch das vom 20. bis 24. Mai geplante Spring- und Dressurderby in Klein Flottbek, das in der vergangenen Woche verschoben wurde, einen Ersatztermin. Selbiges wird auf das Galoppderby in Horn (28. Juni bis 5. Juli) und das Herrentennisturnier am Rothenbaum (11. bis 19. Juli) zukommen.
Beide Veranstalter baten am Donnerstag um Geduld, da sie noch die Option prüfen, ihre Wettkämpfe vor leeren Rängen auszutragen. Regulär vorgesehen sind vom 3. bis 6. September die Porsche European Open der Golfer in Winsen.
Wie hoch der gesamtwirtschaftliche Schaden im Tourismussektor wäre, sollten mehrere oder alle Großevents ausfallen, konnte die Wirtschaftsbehörde noch nicht beziffern. Man hoffe, dass alle im Herbst nachgeholt werden könnten.
Towers drohen 500.000 Euro zu verlieren
Die Basketball-Bundesliga (BBL) erwägt im Falle einer Fortsetzung der seit dem 12. März unterbrochenen Saison Spiele an nur wenigen Orten. Eine Durchführung des regulären Spielplans mit Reisen quer durch die Republik sei nicht denkbar. Insgesamt stehen noch zwölf Spieltage aus. Die Hamburg Towers, derzeit Tabellenletzter, müssten noch siebenmal zu Hause und fünfmal auswärts antreten. Der Zuschauerausschluss schlägt mit rund einer halben Million Euro Verlust zu Buche, gut 200.000 Euro hätten die Towers mit dem Spiel gegen Meister Bayern München am 26. April in der Barclaycard Arena verdient.
Dass die restlichen Spiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden würden, davon geht die Liga aus. Am 27. April wollen sich die 17 Clubs wieder zusammenschalten. Bei einem Saisonabbruch gehen den Vereinen 15 bis 20 Millionen Euro verloren. Der TV-Vertrag mit der Telekom ist mit vier Millionen Euro pro Saison dotiert.
Die Towers, die mit rund fünf Millionen Euro Budget für die nächste Spielzeit planen, würden in jedem Fall alle Lizenzierungsvoraussetzungen erfüllen. Bisher hat erst ein Sponsor vorsichtshalber seinen Vertrag bei den Wilhelmsburgern gekündigt. Zudem signalisierten viele Karteninhaber, auf eine Rückerstattung verzichten zu wollen.
Handballer des HSV Hamburg votieren für Saisonabbruch
Auch die Handballsaison steht vor dem Abbruch. Die Clubs sollen jetzt schriftlich darüber abstimmen, ob es weitergehen soll. In der Ersten Liga stehen neun Spieltage aus, in der Zweiten Bundesliga – mit dem HSV Hamburg (HSVH) – zehn. Verschiedene Modelle ähnlich dem Basketball werden jetzt diskutiert, etwa Geisterspiele im Juni zentral an einem Ort.
HSVH-Präsident Marc Evermann begrüßte alle Ideen, „aber wir müssen jetzt zu einer Entscheidung kommen, auch wann die nächste Saison losgehen soll“. Der Verein votierte am Abend für einen Saisonabbruch. „Diese Entscheidung hätten wir gern vermieden“, erklärte Geschäftsführer Sebastian Frecke, „wenn wir aber nicht mal trainieren können, können wir den Pflichtspielbetrieb auch nicht wieder aufnehmen.“ Der HSVH verlöre bei sechs ausstehenden Heimspielen rund 300.000 Euro an Einnahmen, was den Club bei einem Saisonetat von 2,5 Millionen Euro sehr stark belasten, aber zum jetzigen Stand nicht existenziell gefährden würde. Evermann: „Wir sind in der Planung vernünftig aufgestellt und werden in der neuen Saison mit der Unterstützung unserer Fans, Partner und Sponsoren antreten.“
Holstein bekräftigte unterdessen Grotes Versprechen, dass weder Veranstalter noch Vereine von der unverschuldeten Krise in den Konkurs getrieben und keine Veranstaltungen verloren gehen sollen. „Wir wollen 2021 wieder das gewohnte Programm anbieten“, sagte er. Und wer weiß: Vielleicht folgt auf den traurigsten Sportsommer ja der heißeste Sportherbst.
Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen
- Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
- Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
- Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
- Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten
- Schutzmasken und Desinfektionsmittel können helfen – aber umgekehrt auch zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen